Eines vorweg: Die Flüchtlinge von 1956 empfanden die Aufnahme in Österreich als äußerst freundlich und von einer Atmosphäre "überbordender Herzlichkeit" geprägt, wie es Stefan Radda, Vizepräsident des Runden Tisches der ungarischen Organisationen in Österreich, gegenüber krone.at beschreibt. "In Innsbruck, wo ich untergekommen bin, haben sich 200 Familien gemeldet, um ungarische Schüler und Studenten zu sich zu nehmen. Ich kam zu einer Familie mit drei Kindern. Die ursprüngliche Vereinbarung war, dass ich bis zum Ablegen der Matura dort bleibe. Daraus wurden aber letztlich zwölf Jahre", erinnert sich Radda.
Der 76-Jährige kennt zahlreiche solcher Fälle: "Ein ehemaliger Klassenkollege aus Pannonhalma im Nordosten Ungarns lebt in Wien, und er kam zu einer Familie mit sechs Kindern. Mein Freund hat nach wie vor intensiven Kontakt zu den sechs Kindern seiner Gastfamilie. Das sind bleibende Bindungen, die ich sehr positiv anmerken kann. Unabhängig davon, in welchem Bundesland man war."
"Viele Privilegien waren damals übertrieben"
Zwar sei in den Jahren nach 1956 die Anfangseuphorie und die grenzenlose Hilfsbereitschaft der Österreicher ein wenig abgeebbt, teilweise habe es sogar Neid unter der Mehrheitsbevölkerung gegeben, weil die Flüchtlinge zahlreiche Privilegien genießen durften. Dazu zählte die Befreiung ungarischer Studenten von der Studiengebühr und üppige Stipendien. Das fand Radda damals ebenfalls "übertrieben und daher nicht gut". Doch mit einer "klugen Politik", wie es der ehemalige Flüchtling bezeichnet, habe Österreich das Wohlwollen der Bevölkerung gegenüber den Ungarn am Leben erhalten können.
Und gerade dieses Wohlwollen gegenüber den Flüchtlingen sieht Radda derzeit in Gefahr, denn ganz im Gegensatz zur damaligen Situation, als alles - angefangen von der Aufnahme, der Registrierung und Gesundheitsuntersuchung bis zur Verteilung der Neuankömmlinge auf alle Bundesländer - in geordneten Bahnen abgelaufen sei, passiere das heute ganz und gar nicht: "Ein Teil dieser Flüchtlinge ist ausgesprochen aggressiv und unkooperativ gegenüber den Behörden jener Länder, in denen sie nicht bleiben möchten. Ihre Wunschziele sind einzig und allein Deutschland und Schweden. Aber wenn man aus einer lebensgefährlichen und aussichtslosen Kriegssituation flüchtet, dann bin ich froh, wenn ich in einem Land Zuflucht finde, wo es Frieden und Sicherheit gibt. Das wären die anderen Länder auch, die sie auf dem Weg von Griechenland und Italien Richtung Deutschland durchqueren. Und dieses Verhalten löst auch eine gewisse Aversion in den einzelnen Ländern aus - mittlerweile auch in Deutschland."
"Wir sagten nicht, nach Graz möchten wir nicht"
"Wir waren damals einverstanden damit, dass wir in Österreich aufgeteilt werden. Wir sagten nicht, nach Graz möchten wir nicht, das sei zu weit weg. Grundsätzlich hat der Flüchtling dazu während seines Aufnahmeprozesses keine Berechtigung. Er muss die Regeln und Konventionen des Landes akzeptieren", so der 76-Jährige. In diesem Zusammenhang zweifelt Radda auch die Fluchtgründe zahlreicher Menschen an, die sich derzeit auf dem Weg Richtung Westeuropa befinden oder schon da sind: "Damals war Östrerreich auch nicht so ein wohlhabendes Land. Wahrscheinlich waren die Lebensverhältnisse in Tiroler Bergdörfern sogar schlechter als in so mancher ungarischen Großstadt. Die Aussicht auf Wohlstand war daher nicht der Fluchtgrund der Ungarn. Es war vielmehr der Wunsch nach Freiheit, der Kampf gegen einen Unterdrücker (die Sowjetunion, Anm.)."
Neben der mangelnden Kooperationsbereitschaft spielt für Radda auch die gewaltige Menge an Menschen, die nahezu ungeregelt in die EU einreisen, eine wesentliche Rolle. Nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes Ende November 1956 wurden die Grenzen von den Sowjets geschlossen und zahlreiche Abschnitte vermint. Danach kamen fast keine Flüchtlinge mehr. Das habe Österreich und den anderen Empfängerstaaten natürlich die Möglichkeit gegeben, die Versorgung der Flüchtlinge zu konsolidieren. Insgesamt blieben in Österreich von den maximal 200.000 Flüchtlingen zwischen 11.000 und 30.000. Diese Schwankungsbreite erklärt Tibor Szemeredi, ebenfalls unter den aus Ungarn Geflohenen im Jahr 1956, in einer von ihm erstellten Studie damit, dass bei den meisten Berechnungen nicht alle Personen berücksichtigt werden, die nach einigen Monaten bzw. sogar Jahren aus Österreich weitergewandert sind.
"Verhältnis zwischen Flüchtling und Wirtschaftsmigrant 50:50"
Angesprochen auf das Verhältnis zwischen tatsächlichen Kriegsflüchtlingen - die, so betonen die Gesprächspartner, sehr wohl jeden Schutz bekommen sollten, den ihnen die Aufnahmestaaten bieten können - und den sogenannten Wirtschaftsmigranten geben die beiden gebürtigen Ungarn ebenso wie auch Hilfsorganisationen und Politiker unterschiedliche Schätzungen ab. Ganz so dramatisch wie der ungarische Regierungschef Viktor Orban, der den Wirtschaftsmigranten-Anteil vor Kurzem in einer Rede mit 90 Prozent bezifferte, sehen die befragten Flüchtlinge das Verhältnis nicht. "Bei großzügiger Schätzung kann man aber von einem Verhältnis von 50:50 ausgehen", meint Radda. Und das sei für ihn keine Flüchtlingskrise, sondern "eine Völkerwanderung".
Tatsächlich zeigt ein Blick auf aktuelle Zahlen des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für den August dieses Jahres, dass neben Syrien Albanien und der Kosovo die Hauptherkunftsländer der Flüchtlinge sind. Irak, Afghanistan und Pakistan folgen lediglich auf den Rängen fünf, sechs bzw. zehn. Deutschland dürfte hier die zuverlässigste Quelle bezüglich der Herkunftsländer darstellen, da in den anderen Staaten entlang der Balkan-Route die Registrierungen im besagten Zeitraum nicht so konsequent durchgesetzt werden konnten.
"Orban verteidigt Schengen, über das Wie kann man streiten"
Dass sich die lange im Stich gelassene Regierung in Budapest mithilfe von Grenzzäunen gegen den Flüchtlingsansturm zu wehren versucht, auch wenn das mehr schlecht als recht gelingt, können alle 1956er-Flüchtlinge, mit denen krone.at gesprochen hat, nachvollziehen. "Wenn Herr Orban sagt, dass Ungarn die Schengen-Grenze verteidigen muss, dann hat er damit Recht", erklärt Radda. Über die Art und Weise, wie man das tut, darüber lasse sich natürlich streiten. Und in diesem Punkt kritisiert der 76-Jährige auch die ungarische Regierung. Denn seiner Meinung nach wurden die Soldaten und Grenzpolizisten nicht gut auf diese Krisensituation vorbereitet. Wegen der Überforderung der einzelnen Sicherheitskräfte "sieht man leider immer wieder, dass statt beruhigender Methoden die Polizisten zuschlagen".
Szemeredi schlägt in dieselbe Kerbe und meint: "Die Ungarn sind sicherlich keine Weltmeister, was Organisation betrifft. Aber sie deswegen als kaltherzig und unmenschlich zu bezeichnen, das ist ungerecht." Er sieht die mangelnde Aufnahmebereitschaft Ungarns, aber auch jener Staaten, die sich vehement gegen die Quotenverteilung innerhalb der EU wehren, in den schlechten wirtschaftlichen Voraussetzungen dieser Länder begründet. Der 74-jährige Wiener meint auch, dass die Orban-Regierung zumindest eine Strategie habe, viele andere EU-Staaten hingegen - darunter auch Deutschland - änderten ihren Kurs laufend.
"Österreich gibt seine Souveränität auf"
In diesem Zusammenhang erwähnt er auch die Grenzkontrollen und das Einstellen des Bahnverkehrs zwischen Österreich und Deutschland, nachdem Kanzlerin Angela Merkels "Willkommenspolitik" unerwartet viele Menschen in Bewegung gesetzt und auch die Deutschen überfordert habe. Daher ist der gebürtige Ungar nicht verwundert, dass auch innerhalb der deutschen Koalition immer mehr Stät auf, wenn es unkontrollierte Massen über seine grünen Grenzen hereinließe, so Szemeredi.
Die 84-jährige Irma Toth, die eigentlich kein "klassischer Flüchtling" ist, da sie vor Ausbruch des Ungarn-Aufstandes auf Besuch in Österreich war, Anfang November 1956 aber von den österreichischen Grenzschützern wegen der Kampfhandlungen nicht mehr ins Nachbarland zurückgelassen wurde, ist grundsätzlich sehr kritisch gegenüber der aktuellen Regierung in Budapest eingestellt. Zum Zaunbau meint sie aber: "Wie Orban den Grenzzaun zu Serbien gebaut hat, haben viele EU-Staaten geschimpft - jetzt machen sie ihn aber nach."
Kein Verständnis für arabische "Brüderstaaten"
Ganz schlecht sind Radda und Szemeredi indes auf die reichen Golfstaaten zu sprechen. Warum die "Brüderstaaten", die eine sichere Zuflucht bieten könnten, syrische Kriegsflüchtlinge nicht aufnehmen wollen, verstehen sie nicht. Zumal weder der Konflikt in Syrien noch die Folgen alleine von Europa gelöst bzw. getragen werden könnten. "Dass Saudi-Arabien anbietet, 200 Moscheen für Flüchtlinge in Deutschland zu bauen, ist nicht wirklich eine große Hilfe", kann Szemeredi nur den Kopf schütteln.
Toth meint in diesem Zusammenhang, dass die Angst vor einer Islamisierung Europas innerhalb großer Bevölkerungsteile in zahlreichen EU-Staaten nicht von der Hand zu weisen sei. "Man darf das nicht bagatellisieren", warnt die 84-jährige. Schließlich höre man ja auch immer wieder, dass Geheimdienste vor Dutzenden, wenn nicht Hunderten radikalisierten Muslimen und Terroristen unter den Flüchtlingen warnen, so Toth.
Heutige Situation mit 1956 nicht vergleichbar
In Anbetracht aller Aspekte lassen sich aus Sicht der ungarischen Flüchtlinge aus dem Jahr 1956 keine Schlüsse auf die heutige Flüchtlingskrise ableiten: Die geopolitische Lage im beginnenden Kalten Krieg war anders. Die Fluchtgründe waren andere. Die Staaten mussten viel weniger Flüchtlinge aufnehmen. Außerdem war auch die Aufnahmekapazität wegen der Wiederaufbauphase größer als heute vielerorts. Die gemeinsame Kultur und Religion dürfe auch nicht vergessen werden, die eine Integration erleichtert habe. Die Kritik, dass Ungarn nichts aus seiner Geschichte gelernt habe, sei also nicht legitim, da sind sich die Szemeredi, Radda und Toth einig.
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