Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat nach dem mehrheitlichen "Ja" in der Türkei für die umstrittene Verfassungsreform ein "klares Signal der EU" gefordert. Wenn das "Ja" auch "sehr knapp" ausgefallen sei, bedeute es, dass sich die Türkei immer weiter von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entferne. Das Votum sei daher auch "ein klares Signal gegen die Europäische Union", auf das er sich eine "klare Reaktion" aus Brüssel erwarte. Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) strich in einer ersten Stellungnahme das knappe Wahlergebnis hervor (siehe Video oben).
"Es braucht endlich Ehrlichkeit, was das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei betrifft. Die Zeit des Taktierens muss vorbei sein", verlangte Kurz in der Nacht auf den Ostermontag. Der Außenminister erhofft sich nach dem Referendum eine Bewusstseinsänderung bei jenen in der EU, die nach wie vor für einen Beitritt der Türkei sind.
Kurz erneuerte seine Forderung nach Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara: "Die Türkei kann nicht Mitglied werden", die "Fiktion" eines Beitritts müsse daher beendet werden. Stattdessen sprach er sich erneut für einen Nachbarschaftsvertrag aus. Jedenfalls müsse es klare Regeln für jene Bereiche geben, in denen mit der Türkei - aufgrund ihrer geografischen Lage "nun einmal unser Nachbar" - Zusammenarbeit nötig sei. Unmittelbare Auswirkungen für den Flüchtlingspakt EU-Türkei sieht Kurz nicht.
"Unterstützung und Solidarität für Opposition"
Der ÖVP-Politiker wandte sich auch an die "fast 50 Prozent", die den Kurs von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Volksabstimmung nicht unterstützten und sich "für den Rechtsstaat, die Demokratie und die Menschenrechte in der Türkei" einsetzten: Er sicherte ihnen "Unterstützung und Solidarität" zu. Gerade jetzt sei der "Kontakt und Austausch" mit ihnen wichtig, denn der Ausgang des Referendums werde die Arbeit von NGOs und politischer Andersdenkender in der Türkei "alles andere als einfacher machen".
Auch Kanzler Kern sprach in einem Tweet in Reaktion auf den Ausgang des Referendums jene an, die gegen Erdogans Verfassungsumbau stimmten: "Erdogan hat den Bruch mit dem europäischen Grundkonsens von Demokratie und Rechtsstaat gesucht, fast die Hälfte der Türken ist ihm nicht gefolgt", schrieb er.
Strache für sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen
FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache forderte nach dem Referendum einen sofortigen und endgültigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Darüber hinaus ortete er angesichts des hohen Zuspruchs der Türken in Österreich zur umstrittenen Verfassungsreform ein "Totalversagen von SPÖ, ÖVP und Grünen", wie er in Einträgen auf Facebook schrieb.
Mit dem Ausgang des Referendums habe sich das "Erdogan-Regime" endgültig disqualifiziert. "Sofortiger und endgültiger Abbruch aller EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und keine Ausreden von (Deutschlands Kanzlerin Angela, Anm.) Merkel, Kern und Kurz mehr, welche einen endgültigen Abbruch immer abgelehnt haben", meinte Strache. Die Türkei "ist und kann kein Partner Europas sein".
Van der Bellen: EU-Beitritt in weiter Ferne
Für Bundespräsident Alexander Van der Bellen entfernt sich die türkische Regierung "mit dem umstrittenen und knappen 'Ja' zu einem 'autoritären Präsidialsystem' - wie das die Venedig-Kommission des Europarates bezeichnet hat" weiter von den demokratischen Werten und Standards Europas. "Ein EU-Beitritt der Türkei rückt in immer weitere Ferne", so der Präsident in einer Aussendung.
Die Entwicklung der Türkei gebe "Anlass zu großer Sorge", die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei werde mit dieser Entscheidung noch schwieriger werden. "Dennoch sollten wir besonnen bleiben und die Tür nicht mit einem lauten Knall zuschlagen, sondern mit der Türkei im Gespräch bleiben", so der Bundespräsident am Ostermontag. Eine weitere Eskalation sei weder im Interesse der EU noch der Türkei.
Mitterlehner: "Europa muss Verhältnis neu klären"
Auch ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner machte am Montag klar, dass ein EU-Beitritt der Türkei nach dem mehrheitlichen "Ja" für die umstrittene Verfassungsreform "derzeit kein Thema sein kann". "Die Türkei entfernt sich mit diesem Votum weiter von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Es wird Zeit, dass Europa sein Verhältnis zur Türkei neu klärt", so Mitterlehner.
"Die Europäische Union muss ihre Beziehungen zur Türkei realistisch und ehrlich aufsetzen. Sinnvoller als das starre Festhalten an einer Beitrittsfiktion ist ein neuer Nachbarschaftsvertrag auf Augenhöhe", sagte der Vizekanzler. "Die Türkei ist ein wichtiger regionaler Partner, kann aber in dieser Konstellation sicher nicht EU-Mitglied werden."
Grüne: Starkes "Nein"-Lager trotz massivem Druck
Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Delegationsleiterin der österreichischen Grünen, mahnte, die EU dürfe die Erdogan-Opposition nicht vergessen, die für eine demokratische Türkei gestimmt habe. Dass trotz des massiven Drucks bis hin zu Gewaltdrohungen und Inhaftierungen sowie Ausschaltung der Medienfreiheit das "Nein"-Lager ein "derartig starkes Zeichen für eine demokratische wie europäische Türkei" gesetzt habe, lasse für eine Zukunft nach dieser autoritären "Revolution von oben" hoffen.
Die "relativ knapp bestätigte autoritäre Ausrichtung der Erdogan'schen Politik" müsse von der EU mit einem gleichermaßen eindeutigen Bekenntnis zu den europäischen Werten beantwortet werden. Die von Erdogan angestrebte verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit dürfe es nicht geben, solange er seinen "autoritären Kurs" fortsetze. Verhandlungen über die Modernisierung der Zollunion dürften erst geführt werden, wenn Erdogan unter Beweis gestellt habe, dass er bereit sei, Zugeständnisse zu machen und zur Demokratie zurückzukehren.
Noch-EU-Beitrittskandidat auf dem Prüfstand
Der ÖVP-Delegationsleiter im Europaparlament, Othmar Karas, forderte, dass die Europäische Kommission nun prüft, ob die Türkei die von Beitrittskandidaten zu erfüllenden Kopenhagener Kriterien überhaupt noch einhält.
Die EU-Kommission hatte am Sonntagabend zurückhaltend auf den Ausgang des Verfassungsreferendums in der Türkei reagiert. Die Verfassungsänderungen "und insbesondere ihre praktische Umsetzung" sollten im Lichte der Verpflichtungen der Türkei als EU-Beitrittskandidat und als Mitglied des Europarats begutachtet werden, ließen EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wissen.
"Vollmitgliedschaft kann kein Ziel mehr sein"
Die EU-Vertreter riefen die Regierung in Ankara zur Mäßigung auf. Sie müsse bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen "den breitestmöglichen nationalen Konsens" anstreben, hieß es. Das Streben nach Konsens sei wichtig "angesichts des knappen Ergebnisses und der weitreichenden Konsequenzen der Verfassungszusätze".
Der Ruf nach einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei kam auch erneut vom deutschen Politiker und Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, Manfred Weber (CSU). "Die Vollmitgliedschaft kann kein Ziel mehr sein", sagte er im ZDF.
Verhandlungen liegen derzeit auf Eis
Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind seit Langem umstritten. Brüssel hatte sie 2005 aufgenommen, zuletzt aber keine neuen Kapitel mehr in Angriff genommen - die Verhandlungen lagen also quasi auf Eis. Abbrechen wollte die EU sie bisher aber nicht, um der Türkei die Tür nicht endgültig zuzuschlagen. Weber bezeichneefs müssten bei ihrem nächsten Gipfeltreffen in zwei Wochen eine Neubewertung der Beziehungen zur Türkei vornehmen, sagte er.
Der Wahlkampf hatte das Verhältnis der Türkei zur EU auf einen Tiefpunkt sinken lassen. Erdogan hatte mit Nazi-Vorwürfen auf die Absage türkischer Wahlkampfauftritte in EU-Ländern reagiert. Der Präsident hatte Europa zudem als "verrottenden Kontinent" bezeichnet und angekündigt, das Verhältnis auf den Prüfstand zu stellen.
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