Videochats mit Webcam-Girls sind einer der am schnellsten wachsenden Zweige der Online-Pornoindustrie und erwirtschafteten 2016 zwei bis drei Milliarden US-Dollar. Beschäftigt werden die Webcam-Girls, denen Branchengiganten wie LiveJasmin ihre Gewinne verdanken, dort, wo die Einkommen niedrig und die Jobperspektiven schlecht sind. In Ungarn, Rumänien oder Kolumbien sind regelrechte Fabriken aus dem Boden geschossen, in denen junge Frauen zur Unterhaltung betuchter Nordamerikaner und Europäer strippen. Einer der Branchen-Hotspots ist die rumänische Hauptstadt Bukarest.
Ein unscheinbares Gebäude mitten in Bukarest. Sterile weiße Gänge verbinden in der Niederlassung der Firma Studio 20 auf zwei Etagen 40 Zimmer. Ist eine Tür geschlossen, bedeutet das, dass in dem Zimmer gerade gearbeitet wird, berichtet eine Reporterin der britischen TV-Anstalt BBC. Sie hat in Rumänien ein Geschäft unter die Lupe genommen, in dem Tausende junge Frauen arbeiten, von dem Außenstehenden aber so gut wie nichts bekannt ist: die Webcam-Industrie.
Beim Marktführer sind jederzeit 2000 Webcam-Girls online
Allein beim Branchenprimus LiveJasmin sind zu jeder Tages- und Nachtzeit 2000 Frauen online, überdies einige Männer für die homosexuelle Kundschaft. 35 bis 40 Millionen "Mitglieder", wie die Kunden in dieser Branche genannt werden, beobachten jeden Tag online die "Models", die sich für sie vor der Kamera räkeln, sich mit ihnen unterhalten, für sie strippen - und ihnen das Gefühl geben, sich für sie zu interessieren. Viele arbeiten in der eigenen Wohnung, doch auch in den Niederlassungen des Dienstleisters Studio 20 - allein in Rumänien gibt es neun davon - ziehen sich junge Frauen ohne Perspektive für ihre Kunden aus.
Eine von ihnen ist die 31-jährige Lana. Die alleinerziehende Mutter hat studiert und in der Immobilienbranche gearbeitet - bis die Wirtschaftskrise 2008 alles veränderte. Die Rezession nahm vielen jungen Rumänen die Hoffnung auf ein geregeltes Leben, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt heute etwa 30 Prozent. Die junge Frau sah keine andere Möglichkeit, trat eine Stelle bei Studio 20 an. Eine gut bezahlte: 4000 Euro im Monat - das Zehnfache des rumänischen Durchschnittseinkommens - verdienen die Models im Schnitt, der Dienstleister streicht pro Model noch einmal etwa gleichviel ein. Der Löwenanteil - 8000 Dollar (rund 6,8 Millionen Euro) pro Monat - landet beim Dachkonzern LiveJasmin.
Erster Tag: "Habe mich gefühlt, als wären Hunderte Menschen da"
An ihren ersten Arbeitstag erinnert sich Lana noch gut: "Ich war alleine im Zimmer, habe mich aber gefühlt, als wären Hunderte Menschen da. Ich konnte mich gar nicht darauf konzentrieren, was sie von mir wollten und was sie sagten. Es war ziemlich schockierend." Schnell habe sie aber gelernt, sich in der Flut der Zuseher jene herauszupicken, mit denen sie Geld verdienen konnte. Das fließt nämlich erst, wenn ein Nutzer sie für eine private Sitzung bucht. Was in diesen Sitzungen passiert? "Es ist in erster Linie Unterhaltung. Ich spiele Rollenspiele, ein kleiner Teil sind auch Nacktheit und Masturbation", sagt Lana.
Die Faustregel: Je länger ein Mitglied sich im Privatchat befindet, umso mehr verdienen alle Beteiligten an ihm. Im Studio 20 ist man deshalb erpicht, die aus Nordamerika und Westeuropa stammenden Klienten möglichst lang zu binden. Studio 20 beschäftigt dafür Trainerinnen, Psychologen - und die Englischlehrerin Andrea, die den Frauen nicht nur die Sprache der Kunden beibringt. "Ich kläre sie auch über Fetische auf - was das ist und wieso jemand so etwas hat. Wir lernen Freud und eine Menge Psychologie", erzählt sie. Auch Geografie stehe am Lehrplan - um über die Länder plaudern zu können, aus denen die Kunden kommen. "Wenn man etwas zu reden hat, fühlen sich beide Parteien wohler", so Andrea.
"Sie wollen, dass du ihren Namen sagst, während du strippst"
Tatsächlich scheinen sich viele Webcam-Girls recht wohl mit ihrem Beruf zu fühlen. Sandy Bell, die ihre Kundschaft von zu Hause aus bedient, berichtet: "Meistens sind es nette Kerle, keine Verrückten. Viele suchen nach Liebe, wollen eine Verbindung. Manche wollen, dass du ihren Namen sagst oder mit ihnen redest, während du strippst." Gefährlich sei die Arbeit nicht. "Du gehst online und arbeitest online allein. Das hat nichts mit Prostitution zu tun. Was kann mir ein Mitglied schon tun? Wenn er es übertreibt, kann ich es mit einem Mausklick beenden", sagt sie. Sogar für ihren Freund sei der Job okay. Nur die Familie dürfe nichts erfahren.
Doch nicht alle Webcam-Arbeiterinnen sehen ihren Job wie Sandy Bell, die es wie die meisten ihrer Kolleginnen wegen ihrer Familie vorzieht, ihren "Künstlernamen" im BBC-Bericht zu lesen. Oana (28), die mit 16 von ihrem Freund zur Arbeit vor der Webcam überredet wurde, erzählt: "Es gibt Mädchen, die glauben, sie bleiben immer vor der Kamera und machen Geld. Aber die Dinge, die sie dort machen, verändern sie. Der nächste Schritt ist Prostitution. Das sehe ich jetzt." Sie selbst sei von der Webcam-Szene in die Pornografie und dann weiter in die Prostitution gerutscht. Und dieses Schicksal drohe vielen Webcam-Girls, glaubt sie.
Sexindustrie spricht gezielt junge rumänische Studentinnen an
Das wisse man in der Industrie auch, erzählt die Feministin Irina Ilisei. Dass sich Firmen wie Studio 20 ausgerechnet in Ländern wie Rumänien niederlassen, habe ihrer Ansicht nach einen einfachen Grund: eine hohe Rate von Teenager-Schwangerschaften und in weiterer Folge eine große Zahl alleinerziehender Mütter, die sich und ihre Kinder irgendwie durchbringen müssen. Und die hohe Arbeitslosigkeit - selbst unter jungen Akademikern. Jeder dritte Uni-Absolvent in Rumänien finde keinen Job, was auch gut ausgebildete Menschen ins Webcam-Milieu treibe. "Es gibt sogar Werbung am Campus. Studentinnen erhalten Job-Angebote in Facebook-Direktnachrichten. Und die Studios geben sich sehr seriös - wie bei Einsteigerposten in anderen Branchen", weiß Ilisei.
Bei Studio 20 will man davon freilich nichts wissen. "Es ist psychologisch gefährlich, zwölf Stunden in einem Büro zu sitzen und den Mindestlohn zu bekommen", sagt die Pressesprecherin - und spielt auf die verhältnismäßig gute Bezahlung der Models an. Eine Frage lässt sie allerdings offen: Würden gut ausgebildete junge Frauen wie die studierte Immobilienfachfrau Lana auch dann in der Webcam-Branche arbeiten, wenn sie mit ihrem eigentlichen Beruf ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten? Vermutlich eher nicht ...
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