Flüchtlingskrise

4.9.2015: Die Nacht, die Österreich veränderte

Österreich
07.10.2017 10:25

Es war der 4. September 2015, als die Flüchtlingskrise über Österreich hereinbrach: die dramatische Entscheidung von Werner Faymann und Angela Merkel, Zigtausende Menschen ohne Kontrolle aus Ungarn nach Deutschland zu lassen. Wir wurden überrollt. Dieser Kontrollverlust war erst mühsam wieder wettzumachen. Ungarns Viktor Orbán hatte Faymann und Merkel einen Offenbarungseid aufgezwungen.

Diese Flüchtlingskrise hat Österreich und Europa bis März 2016 in Atem gehalten und fast aus den Angeln gehoben. Ein Redaktionsteam der Zeitung "Die Presse" (Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Novak) hat in minutiöser Kleinarbeit in Wien, Berlin und auf dem Balkan eine Chronik der dramatischen Schicksalstage verfasst: "Die Flucht - Wie der Staat die Kontrolle verlor".

Ihre Hintergrundinformationen zu Faymann und Merkel zeichnen ein eher kritisches Bild deren Krisenmanagements. Laut Autoren: sträfliche Kurzsichtigkeit, fiebrige Stimmungsschwankungen, nackte Angst. Ein Politkrimi mit überraschenden Einblicken in eine Krise, die bis heute noch nachwirkt und polarisiert.

Flüchtlingen bringen Merkel und Faymann in humanitäre Zwickmühle. (Bild: AFP)
Flüchtlingen bringen Merkel und Faymann in humanitäre Zwickmühle.

Diese Chronik zeigt deutlich, dass Außenminister Sebastian Kurz tatsächlich von Anfang an und ungeachtet der "Willkommenskultur" auf Distanz zum "Durchwinken" gegangen war. Diese Nacht hat Karrieren geboren: Burgenlands Polizeichef Hans Peter Doskozil, ÖBB-Chef Christian Kern, Außenminister Kurz. Und sie hat eine Karriere unter anderem wegen des späten Schwenks zerstört: die von Werner Faymann.

Im Folgenden kurze Auszüge aus dem Buch:
"Merkel und Faymann sprechen noch mehrmals in dieser langen Nacht. Beide sehen nun keine Alternative. Die Regierungen Deutschlands und Österreichs sind handelseins.

Merkel hat aber noch zwei Bedingungen: Erstens besteht sie darauf, dass Faymann eine offizielle Erklärung herausgibt, denn er ist näher am Geschehen. Und zweitens muss er umgehend Orbán anrufen. Merkel verlangt es von ihm. Doch im Büro des Bundeskanzlers liegt keine aktuelle Handynummer des ungarischen Premiers vor. Die Ziffernkombinationen von Regierungschefs wechseln regelmäßig, das ist international üblich. Ein Berater Faymanns organisiert schließlich die Nummer - bei einem befreundeten slowakischen Kabinettsmitarbeiter. Ungefähr gleichzeitig reicht auch Botschafter János Perényi die Telefonverbindung seines Regierungschefs nach. Um etwa 23 Uhr hebt Orbán am anderen Ende der Leitung ab. Es ist eine kurze und kühle Unterredung. Faymann gibt Bescheid, dass die Flüchtlinge einreisen dürfen. Der ungarische Premier kündigt 4000 Migranten an.

Nach seinem Telefonat mit Merkel, nach der nächtlichen Entscheidung, die Flüchtlinge aus Ungarn durchzulassen, meldet sich Faymann bei seiner Innenministerin. Johanna Mikl-Leitner schlägt nun andere Töne an. "Sie wissen nicht, was Sie tun, Herr Bundeskanzler. Das werden wir nicht mehr stoppen können. Ich halte das für einen Wahnsinn."

(Bild: APA/EPA/ROLAND SCHLAGER)

Es sollte nur eine "Ausnahme" sein
Mikl-Leitner und Kurz pochen auf die Dublin-Regeln, also auf die Möglichkeit, Asylwerber in jenes EU-Mitgliedsland zurückzuschicken, das sie als Erstes betreten haben. Sie drängen Faymann in dieser Nacht dazu, den Ausnahmecharakter der Situation in einer Erklärung hervorzustreichen.

Politisch ist es unumgänglich, die Flüchtlinge passieren zu lassen. Das wissen beide. Orbán hat mit einer kühlen Taktik den Spieß umgedreht. Wer will schon als Unmensch dastehen und ihn in dieser aufgeheizten Situation nach den Bildern von Parndorf, vom Keleti-Bahnhof und des toten Buben Aylan Kurdi öffentlich darum bitten, Flüchtlinge auf einer Autobahn aufzuhalten?

Orbán hat Faymann und Merkel ausgetrickst
Die Würfel sind gefallen. Um 23.16 Uhr gibt Mikl-Leitner in einer Original-Textservice-Meldung über die Nachrichtenagentur APA der Polizei einen offiziellen Freibrief, die Migranten unkontrolliert durchreisen zu lassen. "Wenn sich diese Menschen nicht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit registrieren lassen ..., dann werden sich ihnen unsere Polizistinnen und Polizisten nicht mit Gewalt entgegenstellen. Wir kämpfen gegen Schlepper und nicht gegen Familien und Kinder."

(Bild: Associated Press)

Faymann und Merkel glauben gemeinsam mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise: an Hotspots und Verteilung. Und sie sind offenbar der Ansicht, Orbán nun eine großzügige Vorleistung auf einen verpflichtenden Verteilungsmechanismus zu gewähren, wenn sie Flüchtlinge übernehmen. Doch sie täuschen sich. Dieser wird sich weiterhin gegen die Quote sträuben.

Hätten Merkel und Faymann mit Orbán einen anderen Ausweg finden können? Vielleicht. Nicht am 4. September, die Dynamik ist nach dem fast live übertragenen Aufbruch der Flüchtlinge vom Keleti-Bahnhof nicht zu stoppen. Aber in den Tagen und Wochen davor hat es ein Zeitfenster gegeben: Den Regierungen in Wien und Berlin hätte es bei ein wenig Vorstellungskraft zumindest schemenhaft bewusst sein müssen, was auf sie zukommt.

Kurt Seinitz, Kronen Zeitung

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