Um 9.45 Uhr verkündete Richterin Sonja Arleth am Montag nach Tumulten und einer Unterbrechung, dass sämtliche Angeklagte von allen ihnen zur Last gelegten Vorwürfen freigesprochen sind - eine heftige Ohrfeige für die viel kritisierte Staatsanwaltschaft. Nach dem sogenannten Mafia-Paragrafen 278a StGB "Beteiligung an einer kriminellen Organisation" hätten den Angeklagten bis zu fünf Jahre Haft gedroht. Neun der 13 Aktivisten waren auch Delikte wie Nötigung, Sachbeschädigung und Tierquälerei vorgeworfen worden. Wegen der langen Prozessdauer, die einige der Tierschützer in den finanziellen Ruin getrieben hätte, will die Verteidigung - wenn das Urteil rechtskräftig ist - bis zu 70.000 Euro Entschädigung erreichen (siehe Infobox).
Nach der Urteilsverkündung wurden die Aktivisten bejubelt, die Tierschützer zeigten sich ergriffen für die Anteilnahme und forderten eine Abschaffung bzw. Reform des Paragrafen 278a (siehe auch Infobox). Am Nachmittag sprach der Erstangeklagte, VgT-Obmann Martin Balluch (Bild), über dieses Thema auch mit einem Beamten aus dem Justizministerium. Sektionschef Christian Pilnacek empfing den eben freigesprochenen Tierschützer zu einem rund einstündigen Gespräch, um das dieser schon vor der Urteilsverkündung ersucht hatte.
"Es war sehr interessant, positiv und konstruktiv. Und es herrschte Zustimmung zu den meisten von uns vorgebrachten Kritikpunkten", erzählte Balluch. Laut Balluch waren diese vor allem die mangelnde Akteneinsicht, die man den angeklagten Tierschützern "bis heute" nicht gewährt habe, sowie die generelle Kritik am sogenannten Terrorismusparagrafen. "Es kann ja nur eine Vereinigung mit Bereicherungsabsicht eine kriminelle sein", betonte Balluch. Im Justizministerium denke man aber ohnehin "ernsthafte Reformen" an, freute sich der Tierschützer. Es seien noch mehr Treffen geplant.
Gericht: "Keine kriminelle Organisation"
Die Beteiligung an einer kriminellen Organisation setze zumindest einen bedingten Vorsatz voraus, erklärte Richterin Arleth, nachdem sie die Freisprüche verkündet hatte. Die Täter müssten es ernstlich für möglich halten, dass sie bei ihren Handlungen eine Straftat begehen. Dies sei aber nicht der Fall gewesen. Man müsse sich außerdem als Erstes fragen, ob überhaupt eine kriminelle Organisation vorliege. Dafür sei eine unternehmensähnliche Verbindung und ein gewisser hierarchischer Aufbau erforderlich, erklärte Arleth. "Das Beweisverfahren hat ergeben, dass das nicht vorliegt."
In beiden Organisationen, Basisgruppe Tierrechte (BaT) und Verein gegen Tierfabriken (VgT), gebe es vielmehr ein basisdemokratisches Vorgehen. Protokolle der Sitzungen sowie die Angaben der verdeckten Ermittlerin "Danielle Durand" hätten dies zweifelsfrei ergeben.
Das Beweisverfahren habe - auch durch die Aussagen der verdeckten Ermittlerin belegt - ergeben, dass es keine Räumlichkeiten gebe, die als Kommandozentrale für eine kriminelle Organisation fungieren. Einige der vorgeworfenen Protestaktionen fielen unter zivilen Ungehorsam und stellten "maximal Verwaltungsübertretungen" dar. Auch Nachweise für einen Handy-Pool oder chemische Substanzen, die auf Anschläge hindeuten, wurden nicht gefunden.
Keine Verbindung von BaT und VgT
Auch eine unternehmensähnliche Verbindung zwischen BaT und VgT, die der Staatsanwalt unter dem Begriff ALF (Animal Liberation Front) vermutete, habe man nicht feststellen können. "Es hat sehr wohl einige Telefonate gegeben, die aber in keinster Weise Indizien für ein gemeinsames kriminelles Zusammenwirken darstellen", so Richterin Arleth. Die Gespräche hätten sogar belegt, "dass einige Leute von der BaT mit Leuten aus dem VgT nichts zu tun haben wollten". Es habe starke Kritik an Balluch gegeben - etwa, dass er größenwahnsinnig sei und übertreibe. "Es mag zwar sein, dass einige der hier sitzenden Angeklagten mit dieser ALF sympathisieren, aber daraus allein zu schließen, dass sie deswegen in einer kriminellen Organisation, die es nicht gibt, Straftaten begehen, kann man nicht", stellte die Richterin klar.
Auch dass es "massiv Verschlüsselungen" gegeben habe, sei kein Beweis für eine kriminelle Organisation. Nach Ansicht des Gerichts handle es sich aber "um eine Protestkultur, die ein politisches Anliegen hat, die im Widerstreit zu Interessen beispielsweise der Polizei stehen". Wenn man nicht will, dass die eigenen Aktionen vereitelt werden, sei auch nachvollziehbar, dass man verschlüsselt agiere. "Wenn keine kriminelle Organisation vorliegt, kann man sich auch nicht daran beteiligen", schloss die Richterin ihre Ausführungen zu diesem Anklagepunkt.
Richterin kritisiert SOKO-Leiter wegen Einsatz der Ermittlerin
Einige Zeit widmete die Richterin bei ihren Ausführungen der verdeckten Ermittlerin. Sie sei für das Gericht "unvorhergesehen" aufgetaucht, bemerkenswert sei dabei die Mitarbeit der Angeklagten gewesen. "Die Aussagen der VE (verdeckten Ermittlerin, Anm.) waren völlig glaubwürdig und nachvollziehbar", meinte sie. Sie habe sich in ihrer Rolle gut eingelebt und sei auch nicht enttarnt worden - "und das bitte in einer Szene, in der man grundsätzlich misstrauisch ist und sich abschottet".
Harsche Kritik wurde in diesem Zusammenhang an SOKO-Leiter Erich Zwettler geübt. Er habe ausgesagt, dass die verdeckte Ermittlung "ein paar Monate gelaufen" ist, zitierte Arleth aus Protokollen: "Die ist bitteschön 15 Monate gelaufen, da muss man sich fragen, was versteht man unter 15 Monaten?" Die Aussagen Zwettlers, wonach es ab 2008 keine VE mehr gab, sei eine "schlichte Schutzbehauptung" gewesen, weil die Rechtsgrundlage für den Einsatz - nach Ansicht des Gerichts sei eine systematische Strukturermittlung vorgelegen, die einer Anordnung der Staatsanwaltschaft bedurft hätte - gefehlt habe. Dies hatte auch der Grüne Sicherheitssprecher Peter Pilz während des Prozesses scharf kritisiert (siehe Infobox). "Als alternativ konstruierte Realität kann man das wohl nicht mehr bezeichnen", so die Richterin.
Weil die Rechtsgrundlage gefehlt habe, habe man den Bericht wohl auch nicht in den Akt gegeben, mutmaßte Arleth, über andere mögliche Motive könne man nur spekulieren. Falsch ausgesagt habe Zwettler aber auch hinsichtlich seines angeblichen Nicht-Wissens über den Einsatz einer Vertrauensperson. Die Befragung des VP-Führers habe eindeutig ergeben, dass gerade die SOKO-Leitung sich nach der Möglichkeit eines Einsatzes einer Vertrauensperson erkundigt habe.
Linguistisches Gutachten "nicht nachvollziehbar"
Das linguistische Gutachten Wolfgang Schweigers sei "unbestimmt und nicht nachvollziehbar" gewesen - bereits Ende März hatte die Richterin Zweifel an dessen Richtigkeit durchblicken lassen (siehe Infobox). Sie habe aber keine neue Sprachexpertise in Auftrag gegeben, weil das Verfassen von Bekennerschreiben allein nicht ausreichen würde, um eine kriminelle Organisation zu bilden. Der Sachverständige habe Widersprüche zwischen seinen Tabellen nicht schlüssig erklären können, so die Richterin. Es sei nicht nachvollziehbar gewesen, warum er trotz Widersprüchen von einer Autorenschaft Balluchs ausging. Auch der Zeuge, der die beiden Balluch-Brüder hinsichtlich der Nerzbefreiung belastet habe, sei für sie nicht glaubwürdig gewesen.
Richterin: "Im Nachhinein kann man leicht klugscheißen"
Zur Verfahrensdauer meinte Arleth, dass die Strafanträge sehr komplex gewesen seien, aber auch eine "sehr exzessive Verteidigungsstrategie" gefahren worden sei. "Auch wenn Angeklagte und Verteidiger es dem Gericht nicht unbedingt leicht gemacht haben, muss man auf der anderen Seite schon sagen, dass sie teilweise Widersprüche und Unzulänglichkeiten gemeinsam mit dem Gericht aufarbeiten konnten." Auch die "umfassenden Rundumschläge" seien für das "leidgeprüfte Gericht" verständlich. "Bedenken muss man aber auch, dass das für die ermittelnden Beamten völliges Neuland war und man im Nachhinein - verzeihen Sie mir diesen Ausdruck - leicht klugscheißen kann", bat sie um Verständnis für die Ermittler.
Aktionismus vor der en. Schon eine Stunde vor Beginn der Verhandlung, um 9 Uhr, hatten "Partystimmung" und Aktionismus vor dem Gerichtsgebäude geherrscht. Laute Musik war zu hören, mehrere Transparente wurden hochgehalten: "Der Staat ist die kriminelle Organisation" war darauf ebenso zu lesen wie "Nach dem Prozess ist vor dem Prozess" und Protestslogans gegen den Pelzverkauf bei Kleider Bauer.
Der Schwurgerichtssaal war ebenfalls schon lange vor Beginn mit interessiertem Publikum gefüllt. Die Urteilsverkündung wurde dann aber plötzlich in einen kleineren Saal verlegt – wohl, um den Fortgang des Verfahrens nicht durch Beifallsbekundungen zu stören –, in den neben den Beteiligten nur einige Journalisten passten. Das sorgte für einigen Unmut unter den Angeklagten.
Angeklagte verließen aus Protest den Saal
Als Richterin Arleth zuerst Privatbeteiligtenvertreter zu Wort kommen ließ, verließen drei Angeklagte aus Protest den Saal 180: Ihrer Meinung nach sei Öffentlichkeit nicht gewahrt, da nicht einmal ihre Verwandten Platz gefunden hätten. Arleth sah die Öffentlichkeit dahingehend gewahrt, dass die Verhandlung per Video in den großen Schwurgerichtssaal übertragen wurde. Mitten in den Disput platzten dann zwei "Eindringlinge", die - laut Parolen skandierend - direkt zum Richtertisch stürmten und Konfetti über Arleth und Staatsanwalt Wolfgang Handler streuten.
Offenbar wollten die Angeklagten der eigenen Urteilsverkündung nicht beiwohnen, versuchte Arleth - gelassen - den Prozess fortzusetzen, worauf Anwältin Alexia Stuefer eine Unterbrechung beantragte, um mit ihren Mandanten zu sprechen. Indessen kam es vor dem Saal zu Tumulten: Eine Aktionistin hielt sich - umringt von Kamerateams und Polizei - an einer Bank fest, Parolen wie "Keine Gewalt" waren zu hören. Zwei Beschuldigte blieben der Urteilsverkündung überhaupt fern.
"Wie viel Demütigung müssen wir über uns ergehen lassen?"
Auch nach der kurzen Pause ging die Verhandlung nicht wirklich friedlich weiter. Eine Angeklagte protestierte weiter lautstark gegen die Saal-Wahl: "Wie viel Demütigung müssen wir noch über uns ergehen lassen?", fragte sie und verwies auf die U-Haft und die knapp 90 Verhandlungstage in diesem Verfahren. Forderungen nach Verlegung der Verhandlung wurden aber abgewiesen.
Arleth hielt neuerlich fest, dass die Öffentlichkeit gewahrt sei: Im Saal 180 befanden sich neben Medienvertretern auch Peter Pilz und Madeleine Petrovic, im Schwurgerichtssaal wurden zusätzliche Sessel aufgestellt. Gerichtspräsidentin Ingeborg Kristen habe den Weg zweier zur Verfügung stehender Säle gewählt, um möglichst vielen Personen die Teilnahme zu ermöglichen. Als endlich Ruhe einkehrte, schlossen sich die Privatbeteiligtenvertreter in kurzen Statements den Ausführungen des Staatsanwalts an.
Beobachter rechneten mit Freisprüchen
Die Tierschützer mussten sich seit dem 2. März 2010 an 87 Tagen vor Gericht verantworten. Im Sommer 2008 verbrachten nach Hausdurchsuchungen zehn Verdächtige, darunter auch VgT-Obmann Martin Balluch, mehr als einhundert Tage in Untersuchungshaft.
Anfang März, genau ein Jahr nach dem Start, hatte Einzelrichterin Arleth überraschend bekannt gegeben, die Verhandlung schnellstmöglich zu einem Abschluss zu bringen - obwohl erst sämtliche Zeugen der Anklage gehört worden waren. Die bis dahin vorgelegenen Ergebnisse des Beweisverfahrens - u.a. die Aussagen der lange verheimlichten verdeckten Ermittlerin "Danielle Durand", die in 15 Monaten in der Tierschutzszene strafrechtlich Relevantes weder gehört noch gesehen oder gelesen hatte - dürften ihr offenbar gereicht haben. Beobachter rechneten mit Freisprüchen.
Marathon-Verhandlungstage
Um das Verfahren im Zeitplan abzuschließen, dehnte Arleth im März die Verhandlungstage bis 21 Uhr und länger aus. Noch am Tag vor den Schlussplädoyers wurde in einer Marathonsitzung ohne längere Pausen über 15 Stunden hindurch - bis nach Mitternacht - verhandelt. Praktisch im letzten Moment weitete Staatsanwalt Handler seine Anklage aus. Sechs der 13 Aktivisten waren bis dahin rein nach dem Mafia-Paragraf 278a angeklagt (sieben u.a. auch wegen Nötigung und Sachbeschädigung).
Handler dehnte die Vorwürfe gegen zwei von ihnen, den erstbeschuldigten VgT-Obmann Balluch und seinen mitangeklagten Bruder, wegen einer Nerzbefreiung in Niederösterreich im Jahr 1997 auf Sachbeschädigung, dauerhafte Sachentziehung und Tierquälerei aus. Die Beschuldigten bestritten jeden Zusammenhang mit dem Vorfall.
Staatsanwaltschaft bis zum Schluss von sich überzeugt
Im Schlussvortrag hatte der Staatsanwalt dann 13 Schuldsprüche gefordert und Art und Umfang der - umfangreichen, heftigen und teils als im Vergleich zu anderen Straffällen lächerlich übertrieben kritisierten - Ermittlungen als "völlig gerechtfertigt" bezeichnet. "Es war kein Verfahren gegen den Tierschutz, auch wenn es von einigen Angeklagten mit Vehemenz so dargestellt wurde", sagte er, "gewalttätigen Auswüchsen muss man entgegentreten."
Die Erkenntnisse der verdeckten Ermittlerin und einer ebenfalls erst nach mehreren Prozessmonaten aufgetauchten Vertrauensperson "VP 481" kanzelte er als irrelevant ab: Es handle sich dabei um "bloße Aktivisten. Sie waren nicht weniger, aber auch nicht mehr" und würden "daher weder zur Be- noch zur Entlastung beitragen".
Verteidiger erwarteten "schallende Ohrfeige" für StA
Verteidiger und Angeklagte sahen die Sache naturgemäß konträr und erwarteten sich einen "glasklaren Freispruch", der auch eine "schallende Ohrfeige" für die Ermittlungen darstellen soll. "Es ist schlicht und einfach so: Es gibt keine kriminelle Organisation", betonte Anwalt Josef Philipp Bischof. Die SOKO habe lange gesucht, aber nichts gefunden: "Es war nichts da, es gibt nichts zu finden." Am Mond auf Palmensuche zu gehen, wäre etwa genauso sinnvoll gewesen, meinte er. Die Verteidiger bekrittelten u.a. die lange Verfahrensdauer, mehrere Angeklagte verloren dadurch ihre Jobs.
Einen Blick in die Zukunft warf bei den Schlussplädoyers Bischofs Kollege Jürgen Stephan Mertens. Er hoffe, dass in der Staatsanwaltschaft "die Erkenntnis reift, dass man dieses Verfahren nicht in eine weitere Instanz zieht". Ein allerdings eher unwahrscheinliches Szenario: Handler kündigte bereits mehrfach an, sich die Geltendmachung der Nichtigkeit vorzubehalten...
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