Missbrauchte Nonne

Was ist im Kloster passiert, Frau Wagner?

Österreich
07.11.2014 15:53
Acht Jahre dauerte ein Martyrium, mit dem eine ehemalige Ordensfrau jetzt an die Öffentlichkeit geht. Sie sei, so Doris Wagner, kein Einzelfall. Isolation, sexueller Missbrauch, ein Selbstmordversuch. Mit Conny Bischofberger sprach die Buchautorin, heute 30, im "Krone"-Interview über ihre erdrückende Geschichte.

Die Vorwürfe der deutschen Theologin wiegen schwer: Sie sei von einem Priester sexuell missbraucht worden, der (österreichische) Orden habe sie nicht geschützt, an dessen "sektenartigen Strukturen" sei sie schließlich fast zugrunde gegangen. Ein weiteres Puzzleteilchen im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche?

Telefoninterview mit Autorin Doris Wagner (nächste Woche stellt sie bei Stern-TV und Sandra Maischberger ihr Buch vor): Sie spricht eloquent und klingt sympathisch. Schwer vorstellbar, dass sie 2008 ohne Geld, ihres Selbstbewusstseins beraubt, missbraucht und psychisch gebrochen dastand.

Hier können Sie Audioausschnitte vom Interview mit Doris Wagner hören: Clip 1 (Doris Wagner über ihr Leben im Kloster), Clip 2 (über den Priester, der sie sexuell missbraucht hat), Clip 3 (Wagner über Kardinal Schönborn).

"Krone": Frau Wagner, wie schmerzvoll war es, dieses Buch zu schreiben?
Doris Wagner: Es ist natürlich keine schöne Geschichte. Ich musste die Seiten immer wieder weglegen, dann sind mir die Tränen über das Gesicht gelaufen. Letztendlich hat es aber gut getan, alles in Worte zu fassen und auf Papier zu bringen. Das jetzt in die Hände von Menschen zu geben, die ich gar nicht kenne, ist allerdings auch ein merkwürdiges Gefühl.

"Krone": Was erhoffen Sie sich von Ihrem Outing?
Wagner: Meine größte Hoffnung ist, Menschen zu erreichen, die auf einem ähnlichen Weg sind wie ich es war. Vielleicht können dadurch Geschichten wie meine in Zukunft verhindert werden. Vielleicht wächst sogar in der Kirche selber die Vorsicht vor solchen Gemeinschaften. Denn dort passieren Dinge, die niemand gutheißen kann.

"Krone": Sie nennen die Ordensgemeinschaft, der Sie 2003 beigetreten sind, im Buch nicht, obwohl Sie dort sexuell missbraucht wurden. Stellen Sie damit nicht alle österreichischen Klöster unter Generalverdacht?
Wagner: Das möchte ich nicht. Aber ehrlich gesagt ist es mir auch gar nicht so unrecht, denn man sollte generell vorsichtig sein, wenn man sich in die Obhut eines Klosters begibt. Mit 19 war das mein größter Wunsch, ich habe den Glauben zu Hause als etwas sehr Schönes erlebt, ich habe mich auf die Kirche verlassen... Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob es überhaupt so etwas wie ein gesundes Klosterleben geben kann.

"Krone": Was ist im Kloster passiert?
Wagner: Je länger ich dort war, desto mehr bin ich meiner Freiheit beraubt worden. Keiner kann sich vorstellen, was das mit einem macht, wenn man isoliert und kontrolliert wird, wenn man seine Freunde und Eltern nicht mehr sehen, keine Bücher mehr lesen darf, kein Fernsehen, kein Radio erlaubt ist... Irgendwann hört man auf zu denken. Da ist es irrelevant, wie intelligent oder begabt oder lebenslustig man war, man verliert alles.

"Krone": Auf Fotos von damals sehen Sie fast verängstigt aus. Welches Bild taucht auf, wenn Sie sie betrachten?
Wagner: Dieser geneigte Kopf... Das habe ich bei vielen Frauen festgestellt, die eingetreten sind: Schon nach kurzer Zeit geht man mit geneigtem Kopf, spricht mit leiser Stimme. Eine geduckte Existenz.

"Krone": Wie ist Ihr Orden mit dem Thema Sexualität umgegangen?
Wagner: Das war einerseits ein großes Tabu, andererseits stand es permanent im Mittelpunkt. Wir mussten jeden Abend dieses Gebet mit der Bitte um Jungfräulichkeit und Keuschheit sprechen. Gleichzeitig wurde mir vermittelt: Nimm dich mehr zurück, du bist eine Gefahr für die Männer im Haus! Wir waren ein gemischter Orden. Ich musste mich grau kleiden, lange Röcke mit Unterrock tragen. Da verliert man ein Stück Identität.

"Krone": Die ersten Übergriffe sind durch Frauen geschehen...
Wagner: Ja, sie haben mich angefasst... Es stand immer im Raum: Da will jemand etwas von mir. Ich kann natürlich nicht sagen, wie weit sie noch gegangen wären. Inwieweit dieses Anfassen sexuell motiviert war, kann ich nicht sagen.

"Krone": Und später war es ein Priester, der Sie missbraucht hat. Wie ist es dazu gekommen?
Wagner: Solche Übergriffe, das ist mir heute klar, sind nur möglich, wenn auch Übergriffe auf die persönliche Freiheit und auf die Privatsphäre stattfinden. Ich war ohnmächtig, eine gebrochene Person, ohne jede Verbindung zu meinen Gefühlen. Erst zwei Jahre, nachdem das alles geschehen ist, habe ich mich meiner Vertrauensperson anvertraut, aber sie hat mich angebrüllt und mich mit Vorwürfen überschüttet.

"Krone": Was ist dann passiert?
Wagner: All meine Hoffnungen wurden zerstört. Ich hatte ein Leben in Geborgenheit, in einer Liebesbeziehung mit Gott gesucht. Zu Liebe gehört Freiheit, persönliche Entfaltung... All das wurde uns genommen. Die Oberen haben festgelegt, was Gott von uns will. Wir haben nicht wie Bräute Christi gelebt, sondern wie Prostituierte.

"Krone": Gestorben, vernichtet, gelähmt - mit so dramatischen Worten beschreiben Sie im Buch Ihre Empfindungen. Wie haben Sie es nach einem Selbstmordversuch geschafft, in ein normales Leben zurückzukehren?
Wagner: Ich lernte einen Menschen kennen, der mich stark gemacht hat. Der mir klar gemacht hat, dass ich ein Recht habe, so zu sein, wie ich bin. Der mich nach vielen Jahren als Erster wieder gefragt hat: Wie geht es dir? Der mir gesagt hat: Ich finde es super, dass du studierst! Ohne ihn hätte ich den Schritt hinaus nicht gehen können.

"Krone": Haben Sie den Mann, der Sie missbraucht hat und der im Buch "Pater Jodok" heißt, angezeigt?
Wagner: Natürlich, in Österreich und in Deutschland. Er hat angegeben, dass es einvernehmlich war. Es ist ihm nichts passiert. Er wurde versetzt, was aber de facto für ihn eine Beförderung war. Ich glaube, er ist mittlerweile wieder zurück in Österreich, zurück in der Gemeinschaft.

"Krone": Glauben Sie, wird er Ihr Buch lesen?
Wagner: Das ist eine spannende Frage. Ich weiß nicht einmal, ob ich hoffe, dass er es liest. Mir ist es eigentlich egal. Ich erwarte mir nicht, dass er auf einmal Reue empfindet.

"Krone": Sie haben 2008 auch den damaligen Papst kennengelernt. Glauben Sie, dass unter dem neuen Papst mit dem Thema Missbrauch anders umgegangen wird?
Wagner: Ich glaube, dass Papst Franziskus ein anderes Klima schafft, und das ist die Voraussetzung dafür, dass sich etwas ändert. Denn meine Geschichte ist kein Einzelfall. Gemeinschaften, die ihre Mitglieder missbrauchen, gibt es viele - und sie sind von der Kirche jahrzehntelang gefördert worden.

"Krone": Sie haben auch Kardinal Schönborn kennengelernt. Was wird er sich denken, wenn er das liest?
Wagner: Ich würde mir wünschen, dass er mein Buch liest. Und dass er meine Geschichte ernst nimmt. Denn Missbrauch hat in der Kirche System. Wann immer ich kirchliche Obere, Bischöfe, Kardinäle, auch Priester angesprochen habe, hatte ich das Gefühl, dass sie einfach überfordert sind mit dieser Tatsache. Sie sagen dann: "Ja, das ist traurig, was Ihnen passiert ist. Ich werde für Sie beten." Und das war es dann. Das reicht aber nicht! Sie müssen erkennen, dass es ein grundlegendes Problem in diesen Gemeinschaften gibt.

"Krone": Was soll der Titel Ihres Buches aussagen?
Wagner: "Nicht mehr ich" ist doppeldeutig. Einerseits war ich nicht mehr "ich", als ich 2011 ausgetreten bin. Andererseits kann mich so etwas nicht mehr treffen.

ng>Wagner: Doch, deshalb erwähne ich ihn auch nicht. Weil ich 100 Prozent sicher sein möchte, dass die nicht noch einmal die Hände nach mir ausstrecken und versuchen, mir vielleicht noch einen Strick zu drehen.

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