"Krone"-Interview

Wehrschütz: “Angst wäre ein schlechter Begleiter”

Österreich
19.07.2014 16:50
Ein Trümmerfeld mit 298 Leichen und die Suche nach der Wahrheit: Im Interview mit Conny Bischofberger schildert ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz (52) seine Eindrücke von der Absturzstelle des in der Ostukraine abgeschossenen Malaysia-Airlines-Passagierflugzeugs mit der Flugnummer MH17.

Als er am Samstagvormittag an seinem ukrainischen Handy abhebt, sitzt er gerade im Fond eines 15 Jahre alten, blauen BMW. Sein Fahrer Andre meint, die Absturzstelle sei höchstens noch 35 Kilometer entfernt. Seit den frühen Morgenstunden musste Christian Wehrschütz in Donezk, gemeinsam mit Journalisten aus der ganzen Welt, auf die Akkreditierung seines Kameramannes für die Reise an den Ort des Grauens warten.

Hat er nicht Gänsehaut? "Ich habe auch schon 3.500 mit Genickschuss getötete Menschen in einem Massengrab aus dem Zweiten Weltkrieg gesehen", meint der ORF-Korrespondent. Seine Stimme klingt wie immer unaufgeregt - umso authentischer kann er dem Fernsehpublikum die schrecklichen Bilder aus der Ostukraine begreifbar machen.

(Bild: Christian Wehrschütz)

Als Wehrschütz ankommt, durchkämmen Mitarbeiter des Katastrophenschutzes, Polizisten und sogar Arbeiter einer nahen Kohlemine in einem Radius von 15 Kilometern Weizenfelder, Dörfer und Waldstückchen nach den Wrackteilen der Boeing 777-200 - und nach den 298 beim Absturz ums Leben gekommenen Passagieren. In den nächsten Stunden schickt der ORF-Korrespondent immer wieder kurze Mitteilungen über sein Blackberry - und Fotos, die ihn vor einem Wrackteil und beim Interview mit Rebellen zeigen. Der Fotograf heißt auch Christian Wehrschütz, es sind also gewissermaßen "Selfies".

"Krone": Herr Wehrschütz, was sehen Sie gerade?
Christian Wehrschütz: Ich stehe auf einem großen, merkwürdigen Feld. Beim ersten Hinschauen vermittelt es ein friedliches Landschaftsbild, die Gräser wiegen sich im Wind. Aber es liegt massiver Leichengeruch in der Luft und immer wieder tauchen Leute vom Katastrophenschutz auf, sie transportieren auf weißen Bahren Leichen ab. Es liegen Reisekoffer herum. Hinter mir sehe ich eine Tragfläche der Boeing, mit einem Teil des Flugzeugrumpfs. Es ist ein sehr trauriger Eindruck, wenn man bedenkt, dass hier fast 300 Menschen auf eine völlig sinnlose Art und Weise ihr Leben verloren haben.

"Krone": Was war Ihr erster Gedanke, als Sie am Donnerstag gehört haben, dass eine Passagiermaschine in der Ostukraine vermutlich abgeschossen wurde? Konnten Sie es glauben?
Wehrschütz: Oh ja. Weil es ja nicht das erste Mal ist, dass ein ziviles Flugzeug abgeschossen wird. Die Amerikaner haben einmal ein iranisches Passagierflugzeug von einem Kriegsschiff aus abgeschossen. Die Ukrainer haben von der Krim irrtümlich eine russische Tupolev abgeschossen, das ist noch gar nicht so lange her. Insgesamt sind mir fünf Fälle bekannt. Aber auch wenn sich die Anzeichen immer mehr verdichten: Wir haben bisher keinen endgültigen Beweis dafür, dass es diesmal so war.

"Krone": Die Ukraine hat Mitschnitte eines Telefonats von Rebellen veröffentlicht, in dem sie das zugeben.
Wehrschütz: Ja, diese Mitschnitte sind mir bekannt, ich habe als Erster davon berichtet. Hier in der Ostukraine wird die Echtheit natürlich bezweifelt. Das Gebiet ist von russischen Medien dominiert, ukrainische Medien können die Menschen hier gar nicht empfangen. Sie sind deshalb der festen Ansicht, dass die Ukraine für den Abschuss verantwortlich ist und nicht die prorussischen Rebellen.

"Krone": Der amerikanische Geheimdienst ist sich sicher, dass es die Rebellen waren.
Wehrschütz: Aber die Amerikaner haben im Irakkrieg auch behauptet, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen hat. Also man muss in all diesen Dingen sehr vorsichtig sein.

"Krone": Was glauben Sie?
Wehrschütz: Ich glaube gar nichts. Die Wahrscheinlichkeit, dass es die Rebellen waren, ist aber größer.

"Krone": Denken Sie, dass das Unglück je restlos aufgeklärt wird?
Wehrschütz: Ja, weil es ja in der ganzen Gegend eine massive Überwachung durch Spionagesatelliten gibt. Derartige Raketenabschüsse sind also registriert. Den Supermächten müsste bereits bekannt sein, von wo aus die Rakete abgefeuert worden ist.

"Krone": Aber die Waffe war eine russische Rakete namens BUK-M1, korrekt?
Wehrschütz: Auch das wissen wir momentan nicht mit Sicherheit. Im Moment fehlt alles, was man Beweis nennen könnte.

"Krone": Was wäre ein Beweis?
Wehrschütz: Raketenteile, die man zusammen mit den Wrackteilen des Flugzeuges finden muss und finden wird.

"Krone": Wäre dann Putin für die fast 300 Toten verantwortlich?
Wehrschütz: Das ist eine sehr populistische Frage. Der russische Präsident unterstützt natürlich die Rebellen, aber als die Amerikaner den iranischen Airbus abgeschossen haben, hat man auch nicht dem Präsidenten die Schuld dafür gegeben. Die Frage ist, wie es möglich war, eine Verkehrsmaschine auf dem Radar mit einem Kampfflugzeug zu verwechseln.

"Krone": Auch Russland-Experte Gerhard Mangott hat das Unglück in einem "Krone"-Kommentar als "tragischen Irrtum" bezeichnet. Sie sind auch Militäroffizier, schließen Sie aus, dass das malaysische Flugzeug bewusst abgeschossen wurde?
Wehrschütz: Das halte ich für extrem unwahrscheinlich, das würde ich fast ausschließen. Welchen Nutzen sollten die Rebellen davon haben, eine Zivilmaschine abzuschießen? Das kostet ihnen ja alle Sympathien.

"Krone": Über dieses Gebiet sind Tausende Maschinen geflogen, es hätte also jede Airline treffen können. Hätte dieser Luftraum nicht gesperrt werden müssen?
Wehrschütz: Ich bin kein Experte der Eurocontrol, die solche Gefahrenananalysen eigentlich vornehmen muss. Aber es ist schon bemerkenswert, denn man wusste ja, dass Abschüsse hier passieren. Es ist nur so: Nach dem Krieg sind immer alle Generäle…

"Krone": Bezeichnen Sie sich eigentlich als Kriegsreporter?
Wehrschütz: Das war ich schon zu Zeiten von Slobodan Milosevic… Ich habe aber eine Abneigung gegen die Heroisierung von Journalisten und Rennfahrern, weil ich der Meinung bin, wer in ein Formel-1-Auto einsteigt, weiß, worauf er sich einlässt. Dasselbe gilt für Journalisten, die aus Krisengebieten berichten, nur mit dem Unterschied, dass Autorennfahrer viel mehr verdienen. Aber wenn Sie wollen, können Sie ruhig Kriegsreporter schreiben.

"Krone": Tragen Sie eine kugelsichere Weste?
Wehrschütz: Nein, weil gute Scharfschützen schießen einem in den Kopf und nicht in die kugelsichere Weste. (lacht) Außerdem sind diese Westen sehr unhandlich und erschweren jede Bewegung.

"Krone": Haben Sie manchmal auch Angst?
Wehrschütz: Angst wäre vielleicht ein schlechter Begleiter, aber natürlich gibt es oft mulmige Gefühle. 2001 in Mazedonien zum Beispiel bin ich in einem Checkpoint in eine Auseinandersetzung zwischen Albanern und Mazedoniern geraten. Der Albaner hat eine Handgranate in die Hand genommen und wollte sie auf uns werfen. Wenn er nicht vorher erschossen worden wäre, hätte es sieben tote Sonderpolizisten und einen toten Journalisten gegeben.

"Krone": Was geht durch Ihren Kopf, wenn Sie an die Menschen denken, deren Leichen hinter Ihnen auf 15 Kilometer verstreut liegen, neben Donald-Duck-Büchern von Kindern, Pässen, Reiseführern und Zahnpasta-Tuben?
Wehrschütz: Natürlich sehe ich das menschliche Leid und es ist nicht so, dass ich kein Mitgefühl hätte. Aber wenn Sie hier arbeiten, dann müssen Sie Emotionen ausblenden. Ich glaube, es ist wichtig, dass hier sehr schnell Pietät einkehrt, dass die sterblichen Überreste schnell zu den Angehörigen kommen, damit eine Bestattung möglich wird.

"Krone": Was meinen Sie mit "Pietät soll einkehren"?
Wehrschütz: Das Schlimme ist, dass die Leichen völlig ungeschützt und durch den Sturz aus 10.000 Metern Höhe deformiert im Gras liegen. Zum Teil sind es nur noch ti. Zum Beispiel ein lackierter Zehennagel.

"Krone": Träumen Sie in der Nacht von Toten?
Wehrschütz: Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich habe ein derartiges Arbeitspensum, dass ich in der Nacht wie ein Toter schlafe. Ich träume eher von Menschen, die leiden, als von Menschen, die schon tot sind. Zum Beispiel von Flüchtlingen, die alles, was sie in ihrem Leben geschaffen haben, zurücklassen müssen und vor dem Nichts stehen. Diese Problematik wird gerade in der Ukraine immer massiver.

"Krone": Herr Wehrschütz, Sie waren einst FPÖ-Mitglied, sind aber seit zwölf Jahren parteilos. Was war es, das Sie damals zu den Rechten gezogen hat?
Wehrschütz: Ich werde wahrscheinlich in 20 Jahren noch gefragt, warum ich FPÖ-Mitglied war. Aber ich stehe dazu, dass ich mir für Österreich gewünscht hätte, dass jenseits der beiden Blöcke eine offenere und weniger von Parteien dominierte Gesellschaft aufgebaut wird. Ich stamme aus Graz und dem früheren Bürgermeister Alexander Götz habe ich das damals zugetraut. Leider ist es der FPÖ aber überhaupt nicht gelungen.

"Krone": Stimmt es, wenn mein Kollege Michael Jeannèe schreibt, der ORF hätte Sie loswerden wollen und deshalb auf den Balkan geschickt?
Wehrschütz: Ich würde das so vielleicht nicht sagen. Natürlich war das ehemalige Jugoslawien 1999 kein besonders attraktiver Posten, da wollte jeder lieber nach Washington, Paris oder London. Das war sozusagen meine Chance, und die habe ich genutzt.

"Krone": Haben Sie sich mit Ihrer Kandidatur zum ORF-Generaldirektor 2011 nicht ein bisschen lächerlich gemacht? Das war doch aussichtslos.
Wehrschütz: Ich habe ja nie behauptet, dass ich eine Chance habe. Aber ich bin so erzogen worden, dass man für das, was man denkt, auch einstehen soll. Und genau das habe ich mit meiner Kandidatur getan. Die Punkte gelten heute noch. Dieses Unternehmen, dem gegenüber ich immer loyal war, muss durch eine Änderung des ORF-Gesetzes und der finanziellen Grundlagen die Möglichkeit bekommen, wirklich unabhängig zu sein.

"Krone": Für Ihre knapp 53 Jahre haben Sie schon relativ viele weiße Haare. Ist der Beruf schuld?
Wehrschütz: Ich glaube eher, dass es Vererbung ist. Mein Vater, der Universitätsprofessor war, hatte auch sehr früh so viele weiße Haare.

"Krone": Schon je Färben überlegt?
Wehrschütz: Nein. Für uns Männer gilt noch immer das, was die "Tante Jolesch" gesagt hat: "Was ein Mann schöner is' wie ein Aff', is' ein Luxus."

Seine Karriere
Geboren am 9. Oktober 1961 in Graz (der Vater ist Uni-Professor, die Mutter Geschäftsfrau). Jus-Studium abgeschlossen, Slawistik-Studium abgebrochen. In den 80er-Jahren ist er FPÖ-Mitglied, seit zwölf Jahren parteilos. Beim ORF seit 1991, Balkan-Korrespondent seit Ende 1999. Wehrschütz ist Milizoffizier (Dienstgrad Major), 2011 kandidiert er für das Amt des ORF-Generaldirektors. Verheiratet mit Elisabeth, zwei Töchter (Michaela ist 32, Immanuela 26). Wehrschütz spricht acht Fremdsprachen (darunter Ukrainisch und Russisch).

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