"Nichts wie weg!"

Äthiopien: Millionen auf dem Sprung nach Europa

Ausland
06.02.2016 10:30

Sechs Stunden Flug, kürzer als ein Shoppingtrip nach New York - und du landest im letzten Kreis der Hölle allen Elends dieser Welt: Am Horn von Afrika mit Äthiopien im Zentrum wachsen Kriege, Dschihadismus, Unterentwicklung, Bevölkerungsexplosion und Klimaveränderung zu einem globalen Jahrhundertproblem zusammen - auch für Europa. Außenminister Sebastian Kurz befand sich Anfang der Woche auf einer Fact-Finding-Mission in Äthiopien, die "Krone" war mit dabei.

Das Land mit 99 Millionen Einwohnern ist als zweitbevölkerungsreichster Staat des Kontinents auch einer der ärmsten. Wie schrecklich müssen aber erst die Zustände in den Nachbarländern wie Somalia, Südsudan, Eritrea sein, dass Hunderttausende von dort ihr Heil in der Flucht nach Äthiopien suchen.

Mehr Flüchtlinge heißt kleinere Rationen
20 Millionen sind dort schon von Hilfe abhängig, und das Wetterphänomen El Niño bringt eine neue Dürrekatastrophe nach Äthiopien. Die Flüchtlinge und Binnenmigranten werden mehr, die Nahrungsmittelrationen werden kleiner.

Fahrt in die Steppe, 600 Kilometer von der Hauptstadt Addis Abeba entfernt. Am Rand der Piste Kadaver von verdursteten Tieren. Windhosen wirbeln den Sand auf. Besuch im Flüchtlingslager Kebribeyah nahe der Grenze zum "Failed State" Somalia. Die Hälfte der 14.000 Insassen ist schon im Lager geboren, denn es gibt dieses bereits seit 1991 - so wie immer mehr Flüchtlingslager der Welt zu Dauereinrichtungen der Dauerkonflikte werden.

Auf 78 Kinder kommt ein Lehrer
In der nicht minder schäbigen Lagerschule kommt auf 78 Flüchtlingskinder eine Lehrkraft. So sieht notgedrungen auch die Ausbildung aus. Ein Lager-Lehrer spricht von seinem Zustand der Verzweiflung: "Am Ende der kurzen Schulzeit haben Tausende nicht die geringsten Zukunftsperspektiven. Dann sind sie nur noch auf dem Sprung und es heißt: 'Nichts wie weg nach Europa!'"

Wurzel des Übels ist die Bevölkerungsexplosion
Von den Hilfsorganisationen sind sich alle einig: Die Wurzel des Übels in der Dritten Welt, besonders in Afrika, ist die Bevölkerungsexplosion. Viele einheimische Regime sehen es aber anders: je mehr Menschen, desto stärker der Staat.

Tatsächlich ist ja nicht die Zahl der Menschen das eigentliche Problem, sondern die Unfähigkeit von Ländern, diese Menschen in ein ordentlich funktionierendes Staatswesen einzubetten. Derzeit leben 1200 Millionen Menschen in Afrika. 2050 werden es 2,4 Milliarden sein und 2100 4,2 Milliarden.

Schon 2040 wird die Hälfte der Menschen unter 25 Jahren afrikanisch sein. Die Managerin des UNO-Koordinierungsprogramms vor Ort: "Wir haben es nicht nur mit einer Bevölkerungsexplosion zu tun, sie erreicht nun auch einen absolut kritischen Punkt. Bisher war die landwirtschaftliche Fläche auf Söhne und Enkel aufgeteilt worden. Jetzt gibt es nichts mehr zu teilen."

Dazu passend der neue Flüchtlingsrekord: 20 Millionen weltweit, davon 15 Millionen in Afrika. Dieser Kontinent kann einem Albträume bescheren. Bei vielen der kriegerischen Konflikte geht es eigentlich nur um den Kampf um die schwindenden Lebensgrundlagen.

"Menschen für Menschen": Hilfe zur Selbsthilfe
Zahlreiche Hilfsorganisationen sind im Katastrophengebiet im Einsatz. Eine der interessantesten ist die von Karlheinz Böhm gegründete Organisation "Menschen für Menschen".

Der Manager vor Ort: "Wir wollen statt 'Almosen geben' die Menschen lehren, selbst ihre Lebensgrundlagen zu verbessern, also ihre landwirtschaftliche Tätigkeit effizienter zu machen. Wir drängen niemandem diese Hilfe auf, die Menschen kommen im Schneeballprinzip zu uns."

China steigt groß in Äthiopien ein
Die agro-technische Fachschule von "Menschen für Menschen" genießt in Äthiopien hohes Ansehen. Auf Test-Beeten wird gerade für nachhaltige Landwirtschaft im Klimawandel experimentiert. Experten haben berechnet, dass das äthiopische Hochland bei landwirtschaftlicher Nutzung auf europäisch-amerikanischem Niveau den halben Kontinent ernähren könnte.

China hat in puncto Entwicklungshilfe Äthiopien als Vorzeigemodell für den ganzen Kontinent ausgewählt. Soeben wurde eine Straßenbahn in Addis Abeba eröffnet, und eine leistungsfähige Eisenbahnlinie zum Hafen von Dschibuti ist in Bau. Wichtige Investoren sind auch die Türken.

Bei der Errichtung von Infrastruktur ist China Großmeister. Für böses Blut unter Einheimischen sorgen Hotels, Bars etc., wo nur Chinesen hineindürfen.

Äthiopien ist ein christlich-muslimischer Vielvölkerstaat, in dem das christliche Staatsvolk der Amharen nicht die Mehrheit hat. Es ist nicht leicht, einen solchen Staat gerade im Zeitalter des Dschihadismus zusammenzuhalten.

In Moslem-Hochburg alle Religionen an einem Tisch
Besuch in der Provinzhauptstadt Harar nahe Somalia, die ein Jahrtausend lang ein eigenes Emirat war. Dort sorgt für das religiöse Zusammenleben eine Ratsversammlung bestehend aus Vertretern der äthiopisch-orthodoxen Kirche, Protestanten, Moslems, Katholiken, Neo-Evangelikalen und anderen einheimischen Kirchen.

Gegenüber Außenminister Kurz drückten die Würdenträger die Hoffnung aus, dass ihre Einrichtung auch ein Modell für andere sein sollte: "Miteinander reden statt kämpfen."

Der Imam bestätigt wachsenden Einfluss des Dschihadismus etwa aus Somalia besonders auf junge Moslems: "Das ist eine Frage mangelnder Bildung, wenn sie denen Glauben schenken. Viele Prediger werden in Saudi-Arabien ausgebildet."

Zur politischen Lage in seinem Land warnt Äthiopiens Außenminster Tedros Adhanom vor der Vorstellung, man könne Demokratie wie einen Lichtschalter einschalten: "Demokratie ist das Ziel. Wir sind darin noch Anfänger".

"Hier in Afrika sind die Flüchtlinge von morgen"
Eine sorgenvolle Bilanz zog Kurz am Ende seiner Reise. Er warnte vor einer noch viel massiveren Flüchtlingswelle aus Afrika: "Hier sind die Flüchtlinge von morgen. Wenn wir nicht endlich einen Systemwechsel zustande bringen im Umgang mit dem Problem, könnten sich Millionen auf den Weg machen. Besser eine Hilfe vor Ort als grenzenlose Aufnahme."

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