Austrittsdebatte
Angst vor “gefährlichen” Zugeständnissen an Briten
Noch ist kein Deal unter Dach und Fach, doch die Chancen auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU haben sich durch den jüngsten Kompromissvorschlag der Union ein wenig gebessert. Den Briten wird unter anderem die Kürzung von Sozialhilfe für EU-Ausländer zugestanden. Diese "Notbremse", die im Falle einer überproportional hohen Zuwanderung gezogen werden darf, stünde aber auch allen anderen EU-Mitgliedern zu. Aus diesem Grund warnen viele Politiker, dass dieses Entgegenkommen Risiken für den Zusammenhalt der Union birgt.
Seit Wochen verhandeln London und Brüssel über die britischen Forderungen nach einer EU-Reform, die einen Verbleib Großbritanniens in der Union sichern soll. Das Ziel von Premier David Cameron: Mit einem erfolgreichen Abschluss und vielen Ausnahmeregelungen für London könnte der britische Regierungschef zu Hause mit gutem Gewissen für einen Verbleib in der EU werben. Cameron will seine Landsleute möglicherweise noch in diesem Jahr über den Verbleib in der EU abstimmen lassen. Falls die Abstimmung scheitern sollte, käme es zum Austritt ("Brexit").
Sozialhilfe-"Notbremse" nur in Ausnahmesituationen
Die Gespräche scheinen erste Früchte zu tragen, die in London als "echter Fortschritt" begrüßt werden. Kern jenes Kompromisspapiers, das EU-Ratspräsident Donald Tusk ausgearbeitet hat, ist die sogenannte Notbremse bei Sozialleistungen für zugewanderte EU-Ausländer. Mithilfe dieser Maßnahme könnten die Briten die Geldleistungen kürzen, ohne dass dadurch die EU-Verträge geändert werden müssen. Die hier verankerte Freizügigkeit erlaubt es Arbeitnehmern, in einem EU-Land Arbeit zu suchen und dort auch zu wohnen. Die ausländischen Arbeitskräfte dürfen beim Zugang zu Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen nicht gegenüber heimischen Beschäftigten benachteiligt werden. Die "Notbremse" kann allerdings, wie der Name schon sagt, nur in Notsituationen - sollte es zu einer Zuwanderung "von außergewöhnlicher Größe über längere Zeit" kommen - gezogen werden, und dann auch nur nach einer entsprechenden Prüfung durch Brüssel.
Weitere EU-Vorschläge:
- Souveränität: Die von Cameron kritisierte Formulierung einer "immer engeren Union" aus den EU-Verträgen sei keine Grundlage dafür, die Tragweite des europäischen Rechts auszuweiten, heißt es in Tusks Vorschlag. Sie zwinge auch keinen Mitgliedsstaat dazu, an einer weiteren politischen Vertiefung teilzunehmen, möglich seien "verschiedene Wege der Integration". Auch Camerons Forderung, die nationalen Parlamente zu stärken, findet sich in den Vorschlägen wieder. Bei EU-Gesetzesvorhaben können diese binnen zwölf Wochen nach Vorlage eines Entwurfs die "Rote Karte" zeigen. Nötig ist dazu eine Mehrheit von 55 Prozent der nationalen Parlamente in der EU. Der EU-Rat wäre dann verpflichtet, das Vorhaben zu stoppen, falls der Entwurf nicht so ergänzt wird, dass er die Bedenken der Parlamente berücksichtigt.
- Wettbewerbsfähigkeit: Die EU soll ihre Anstrengungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit verstärken, um Wachstum und Jobs zu schaffen. Sie soll dabei "konkrete Schritte" beschließen, um bessere Gesetzgebung zu ermöglichen sowie Verwaltungslasten und Bürokratiekosten zu beseitigen. Ziel ist es vor allem, kleine und mittlere Unternehmen zu entlasten. "Unnötige" Gesetzgebung auf EU-Ebene soll zurückgenommen werden.
Tusk betonte in einem Schreiben an die 28 EU-Regierungschefs am Dienstag, dass "die Gemeinschaft unserer Interessen viel stärker ist als das, was uns trennt". "Die Frage, die zu beantworten ist, ist miteinander oder nicht - diese Frage muss vom britischen Volk in einem Referendum beantwortet werden, aber auch von den anderen 27 EU-Staaten in den kommenden beiden Wochen," so der EU-Ratspräsident weiter.
Karas: "Brauchen Gemeinsamkeit, nicht Extrawürste"
Auch wenn Tusk erklärte, dass er die Prinzipien, auf denen das Europäische Projekt gegründet ist, nicht über Bord geworfen habe, warnen Kommentatoren und EU-Politiker, dass dieses Entgegenkommen für die Union insgesamt noch sehr gefährlich werden könnte. Der Grund: Sämtliche Ausnahmen, die hier den Briten zugestanden werden, sollen auch für alle anderen EU-Staaten gelten. Droht eine Kettenreaktion, die zum Zerfall der Union führt? EU-Parlamentarier Othmar Karas mahnt zur Vorsicht: "Die Flüchtlingsdebatte lehrt uns, dass wir mehr Gemeinsamkeit in der EU brauchen, nicht mehr Extrawürste. Die EU muss handlungsfähiger werden. Wir brauchen sicher nicht mehr, sondern weniger 'Rote Karten' und Bremsmechanismen."
Karas will die neuen Vorschläge danach bewerten, ob sie Europa in der Welt stärken oder nicht. "Die eigentlich wichtige Frage ist, wie wir die EU fit für die Globalisierung machen, nicht wie wir jedem eine Ausnahmeregelung geben. Wir werden die Verhandlungen mit Großbritannien danach beurteilen, ob sie die europäische Integration behindern oder erleichtern", so Karas, der zu bedenken gibt, dass ein Deal mit London keineswegs eine Garantie für einen positiven Ausgang des geplanten Referendums sei.
EU als "Spielball eines politischen Zockers"
Deutsche Tageszeitungen kommentieren die Vorschläge ähnlich - wenn auch scharfzüngiger: Die "Berliner Zeitung" sieht die EU als "Spielball eines politischen Zockers". Die "Tagesschau" spricht von einem "Kniefall vor Cameron": "Die EU-Verteidiger aus Brüssel wollen Großbritannien in der Union halten - um jeden Preis. Auch um den Preis der EU-Selbstaufgabe."
Obama für Großbritannien "in starker EU"
US-Präsident Barack Obama jedenfalls wünscht sich "ein starkes Vereinigtes Königreich in einer starken Europäischen Union". Dies teilte das Weiße Haus nach einem Telefongespräch Obamas mit Cameron mit.
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