Giftschlamm-Unglück

Betroffene sind verzweifelt: ‘Warum hilft uns niemand?’

Ausland
06.10.2010 16:38
Nach der tödlichen Schlammlawine aus einem ungarischen Alumiumwerk stehen die betroffenen Anwohner nun vor dem Nichts - und fühlen sich von den Behörden und dem Verursacher der gigantischen Umweltkatastrophe alleingelassen: "Uns hilft niemand, uns informiert niemand." Unterdessen wurde bekannt, dass nicht nur der giftige Schlamm die Gesundheit der Anwohner bedroht - auch die Luft ist stark mit Schadstoffen belastet.

Der etwa 50-jährige Landwirt in Trainingsanzug und Gummistiefeln aus dem westungarischen Dorf Kolontar wirkt müde und desillusioniert. Die rote Schlammlawine hat seinen Hof, seine Keller und Gärten überschwemmt. Die ätzende Brühe stammt aus einem geborstenen Speicherbecken des Bauxitwerks im benachbarten Ajka. Der Mann weiß noch nicht, wie groß der Schaden bei ihm ist, und er weiß nicht, ob er ihm je ersetzt wird.

Zwei Tage nach einer der schlimmsten Umweltkatastrophen Ungarns beginnen in Kolontar, Devecser und drei anderen betroffenen Ortschaften die Aufräumarbeiten. Katastrophenschutz und Feuerwehren beginnen damit, den Schlamm aus den Gebäuden abzupumpen, die Straßen von der inzwischen getrockneten roten Masse zu säubern. Kolontar trauerte um mindestens vier Tote, die in der Schlammflut vom Montag ertrunken waren: ein 14-monatiges Kleinkind, eine ältere Frau sowie ein Mann und eine Frau jeweils mittleren Alters, wie die Behörden am Mittwoch bestätigten. Sechs weitere Personen werden noch vermisst.

"90 Prozent wollen nicht mehr zurückkehren"
Die Menschen sind geschockt - viele von ihnen wütend. "90 Prozent wollen nicht mehr zurückkehren, weil ihnen niemand garantieren kann, dass sich derlei nicht wiederholt", sagt Karoly Tili, der Bürgermeister von Kolontar. Manche Bewohner zeigen mit dem Finger auf das Bauxitwerk und seinen Betreiber, die Aluminiumhütte MAL AG. "Jeder wusste, dass der Damm am Speicherbecken undicht war", behauptet ein Mann mittleren Alters. "Das war ein offenes Geheimnis, aber man hat es unter den Teppich gekehrt."

Die Verantwortlichen der MAL bestreiten die Vorwürfe. "Wir haben die Becken täglich inspiziert und keine Unregelmäßigkeiten festgestellt", sagt MAL-Geschäftsführer Zoltan Bakonyi. Doch überzeugen kann er die Geschädigten der Region nicht. Auf YouTube tauchten Bilder von dem zwischen Ajka und Kolontar gelegenen Rotschlamm-Becken auf. Die Anlage wirkt vernachlässigt, Sperren und Schleusen sind von Rost befallen. Die laugehaltige und ätzende Brühe fällt bei der Herstellung jener Tonerde an, aus der Aluminium gewonnen wird.

Aluminiumindustrie ist schweres Erbe für Ungarn
Die Überreste der kommunistischen Bauxit- und Aluminiumindustrie sind ein schweres Erbe. Geschäftsleute aus der post-kommunistischen Elite erwarben die Anlagen bei der Privatisierung in den 1990er-Jahren "für einen lächerlichen Betrag", schrieb die Budapester Tageszeitung "Nepszabadsag" in einem Kommentar am Mittwoch.

Dank ihrer Vernetzung im politischen Filz der Nach-Wendezeit verhinderten die neuen Eigentümer die Einführung einer Deponiesteuer für die Abfalllagerung in freier Natur. Zudem sicherten sie sich billige Strompreise für eine ansonsten unwirtschaftliche Aluminium-Produktion. "Wir sind zum Land der Mülldeponien geworden", stellte der Kommentar resignativ fest.

Auch Luft im Krisengebiet ist verseucht
Eine Fläche von mindestens 40 Quadratkilometern ist verseucht, Flüsse werden bereits als "tot" bezeichnet, Flora und Fauna sind größtenteils vernichtet, sogar die Luft ist mit Schwermetallen kontaminiert. Andreas Beckmann, Leiter des WWF-Donau-Karpaten-Büros, zeichnet ein düsteres Szenario: "Es sieht nicht gut aus." Sollten es die Hilfstrupps in den kommenden vier Tagen nicht schaffen, den giftigen Rotschlamm zu binden, würde dieser in die Donau fließen.

Nicht nur für die Flüsse ist die Lage offenbar katastrophal. Beckmann: "Das Grundwasser ist in drei Bezirken massiv gefährdet, weil es dort stark geregnet hat." Die im Rotschlamm enthaltenen Schwermetalle würden den Boden derart verseuchen, dass er eigentlich komplett abgetragen werden müsse.

Langzeitfolgen kaum absehbar
Sich in Kolontar und Umgebung aufzuhalten, sei derzeit nicht ratsam: "Die Luft ist vergiftet und in den Häusern stehen die Menschen bis zur Hüfte im Schlamm." Die gesundheitlichen Langzeitfolgen für die Menschen seien unabsehbar, denn einzelne Stoffe in der rotbraunen Masse seien krebserregend. Die Natur im Katastrophengebiet ist laut WWF jedenfalls zerstört: Otter, Eisvogel, Uferschwalbe - aber nicht nur seltene Arten sind bedroht. Die gesamte Tierwelt ist quasi dem Untergang geweiht.

Verheerende medizinische Langzeitfolgen prognostizierte der Umweltmediziner Hans-Peter Hutter von der Medizinischen Universität Wien. "Nicht die akuten Vergiftungen bereiten mir Kopfzerbrechen, sondern die chronischen Vergiftungen", so Hutter. Erkrankungen wie Krebs sind die Folge. Besonders betroffen werden die Organe wie Leber, Nieren und Harnblase sein, sagte der Mediziner.

Dutzende "tickende Zeitbomben" in Westungarn?
Das Giftschlammbecken von Ajka dürfte nicht das einzige derartig überfüllte Depot in Ungarn sein: Laut WWF gebe es noch weitere giftige Becken im Donauraum, die teilweise sogar verlassen und ungesichert seien. In ganz Ungarn befänden sich Reservoire mit einem geschätzten Gesamtvolumen von 50 Millionen Kubikmetern. Eines dieser Becken sei bei Almasfuzito direkt an der Donau angesiedelt und würde bei einer ähnlichen Katastrophe den Fluss praktisch vernichten (siehe Infobox).

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