"Taubheit vor Sturm"

Bush erhielt schon Wochen vor 9/11 CIA-Warnungen

Ausland
11.09.2012 08:29
Am elften Jahrestag der 9/11-Terroranschläge sorgt ein "New York Times"-Journalist mit einem Augenzeugenbericht für Aufregung. Kurt Eichenwald, renommierter Investigativreporter, behauptet, dass die US-Regierung unter George W. Bush Monate vor den Anschlägen regelmäßig von den Geheimdiensten vor Al-Kaida-Aktivitäten gewarnt worden war. Ein Abteilungsleiter der CIA-Anti-Terrorismus-Einheit sei ob der tauben Ohren im Weißen Haus derart verzweifelt gewesen, dass er seinen Mitarbeitern empfahl, sich versetzen zu lassen - damit sie am Ende nicht als Schuldige gezählt würden, die tatenlos den Terror geschehen ließen.

Ein einziges der Geheimdienst-Memos ("presidential daily briefs") hat die US-Regierung unter George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September der 9/11-Untersuchungskommission überlassen. Unter dem Betreff "Bin Laden entschlossen, USA zu attackieren" warnten die Geheimdienste den Präsidenten am 6. August 2001 vor einem möglichen Al-Kaida-Anschlag. Zu allgemein und ein Einzelfall, um gleich sofort alle Hebel des amerikanischen Sicherheitsapparates in Bewegung zu setzen, so die Argumentation der Bush-Regierung.

"Die Taubheit vor dem Sturm"
Der "NYT"-Journalist Kurt Eichenwald, Buchautor und preisgekrönter Investigativreporter, bezichtigt die Bush-Regierung in seinem Augenzeugenbericht unter dem Titel "Die Taubheit vor dem Sturm" jetzt der Vertuschung. Er habe mittlerweile Dutzende "daily briefs" gelesen, in denen die CIA und andere Geheimdienste Bush über Wochen hinweg vor einem groß angelegten Terroranschlag Bin Ladens warnten. Am 1. Mai hieß es im Geheimdienst-Memo, eine "Gruppe, die sich derzeit in den Vereinigten Staaten befindet", plane einen Terroranschlag. Ab Juni erhielten der Präsident und die Regierungsmitglieder beinahe wöchentlich derartige Warnungen, die immer konkreter wurden. Am 29. Juni hieß es, Bin Laden plane "demnächst" einen Anschlag mit "dramatischen Konsequenzen". 

Die Quellen für die CIA-Informationen waren teils namentlich genannt. So berichtete ein für seine Verbindung zu Al-Kaida bekannter Islamistenführer in Tschetschenien von "big news", die es bald in den Vereinigten Staaten geben würde. Binnen 48 Stunden war das Weiße Haus informiert, doch es gab keine Reaktion. 

CIA-Mitarbeiter vollkommen zermürbt
Laut Eichenwald waren die Analysten der Anti-Terror-Einheit der CIA durch die wochenlang ignorierten Warnungen derart zermürbt, dass bei einem Meeting Anfang Juli ein Abteilungsleiter seinen Mitarbeitern vorschlug, um Versetzungen anzusuchen. Dann wären sie wenigstens nicht unter den Schuldigen, die die Regierung trotz ihrer eigenen Verfehlungen zweifelsohne suchen werde, wenn der Anschlag dann geschehe. Die Mitarbeiter verneinten, es wäre unverantwortlich und in dieser kurzen Zeit - die CIA hatte zwar kein konkretes Datum, ging bei den drohenden Anschlägen aber stets von einem Zeithorizont von wenigen Wochen aus - würden sich neue Leute in die Materie nicht einarbeiten können.

Nur ein einziges Mal bekamen die Anti-Terror-Experten einen Auftrag vom Weißen Haus als Reaktion auf eines ihrer Briefings. Sie rechneten damit, dass die Regierung sie nun in eine höhere Alarmbereitschaft versetzen und ihnen mehr Ressourcen zuteilen würde. Stattdessen bat die Bush-Administration um eine "breitere Analyse" von Al-Kaida, "seiner Geschichte und Motive". Die bekam Bush dann am 6. August zugestellt - jenes Memo, das später der Untersuchungskommission vorgelegt wurde, um zu beweisen, dass man nur ein Mal vor einem möglichen Anschlag gewarnt wurde und dabei weder Datum noch Ort erwähnt wurden. 

"Wir werden es nie wissen"
Eichenwald glaubt, dass im Memo vom 6. August mehr konkrete Verdachtsmomente zu finden gewesen wären, wenn die Regierung Wochen früher die Warnungen der CIA ernst genommen und mehr Ressourcen eingesetzt hätte. In seinem Beitrag zählt er zwei Ereignisse in den Wochen vor den Anschlägen auf, die - wenn man sie miteinander in Verbindung gesetzt hätte - möglicherweise auf die Spur der Attentäter führen hätten können: Am 4. August verweigerten Zollbeamte in Florida einem Saudi die Einreise und schickten ihn wieder nach Übersee. Der Mann tauchte später bei der Suche nach den Hintermännern der Anschläge als Verbindungsmann auf. Zwei Wochen später wurde ein Mann, der mit den Attentätern in Kontakt gestanden ist, wegen eines ungültigen Aufenthaltstitels verhaftet - er war zuvor in einer Flugschule als verdächtig aufgefallen. Die Ereignisse wurden als Einzelfälle behandelt.

Eichenwald will mit seinem Bericht, der in der "New York Times" als Kommentar veröffentlicht wurde, keine Schuldzuweisungen erreichen. Sein Schlussatz: "Hätten die 9/11-Anschläge verhindert werden können, wenn Bushs Team den Warnungen in all diesen Memos eine Dringlichkeit zukommen lassen hätte? Wir werden es nie wissen. Und das ist die am meisten quälende Wahrheit hier."

Fonds für Krebserkrankungen als 9/11-Folgeschäden
Zum elften Jahrestag hat die US-Regierung verfügt, dass Helfer und New Yorker Einwohner mit bestimmten Krebsarten als Opfer der Terrorattacken entschädigt werden. Die Regelung gilt für alle Betroffenen, deren Krebserkrankung auf die Anschläge auf das World Trade Center zurückgeführt werden kann. Das Geld kommt aus einem Fonds, der im vergangenen Jahr eigens für Opfer mit verschiedenen Gesundheitsproblemen eingerichtet worden ist. Krebsleidende wurden bisher nicht eingeschlossen, weil es schwierig war, eine Verbindung zwischen ihrer Erkrankung und den Anschlägen nachzuweisen. Wer während der Anschläge oder während der Aufräumarbeiten giftigen Stoffen auf Ground Zero ausgesetzt war und dann an bestimmten Krebsarten erkrankt ist, kann aber von jetzt an Entschädigungsleitungen beantragen.

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