Lokalaugenschein

Giftschlamm: Devecser stirbt den Tod in Rot

Ausland
12.10.2010 09:26
Bernd Schaudinnus steht inmitten der größten Umweltkatastrophe in der Geschichte Ungarns, seine Gummistiefel versinken bis über die Knöchel in rostbraunem Schlamm, doch er murmelt durch seine Schutzmaske: "Ach, so schlimm ist das gar nicht mehr. Vor ein paar Tagen sind tote Fische mitten auf der Straße gelegen."

Der Greenpeace-Mitarbeiter hat die Bilder aus der Vorwoche noch deutlich vor Augen. Da ist durch das beschauliche Dörfchen Devecser im Komitat Veszprem ein Tsunami gebraust. Bis zu zwei Meter hoch war die giftige Welle, die aus einem gigantischen Becken einer Aluminiumfabrik geflossen ist, deren desolater Damm gebrochen war. Diese Welle hat nicht nur viele Existenzen vernichtet, sondern auch die Umwelt. Und das für sehr lange Zeit.

Mit seinem Kollegen Tom Trenker kämpft sich Schaudinnus durch die Gassen, soweit diese als solche noch erkennbar sind. Der Schlamm, der ausnahmslos alles bedeckt, glänzt wie Schokoglasur in der kräftigen Herbstsonne. "Das ist gar nicht gut", blinzeln die beiden in den blitzblauen Himmel. "So blöd das klingt, aber im nassen Zustand ist der Schlamm im Moment nicht das Problem." 

Doch sobald das Zeug zu trocknen beginnt und von den vielen Schwerlastern aufgewirbelt wird, die Erde durch den Ort transportieren, wird es gefährlich. Arsen, Kadmium, Blei, Chrom und sicher auch ein bisschen Quecksilber - die Partikel können in der Lunge jede Menge Schaden anrichten. "Auch nicht sofort. Es kommt alles erst in ein paar Jahren. Das ist ja das Grausliche an der Sache."

"Die kippen das irgendwo in die Landschaft"
Die Wucht der Flutwelle hat die Fensterscheiben der Häuser bersten lassen. Aus ihnen dringt das monotone Kratzgeräusch von Schaufeln, die nicht enden wollende Schlammmassen auf die Straße schleudern. "Das ist doch alles sinnlos", schüttelt Schaudinnus den Kopf. "Das Ganze hier ist nicht mehr als eine große Verteilaktion." Am Ende landet die rotbraune Suppe doch nur wieder auf den Feldern oder in den Bächen und Flüssen. Niemand scheint zu wissen, wohin mit diesen Unmengen an giftiger Brühe. Oder doch?

Das windgegerbte Gesicht des erfahrenen Umweltschützers wirft noch ein paar Falten mehr: "Die fahren voll nach Kolontar und kommen leer wieder retour", wird Schaudinnus stutzig. Kollege Trenker hat mitgezählt: "65 pro Stunde, jeder braucht für seine Tour 40 Minuten." Kolontar liegt ein paar Kilometer östlich von Devecser und ist mittlerweile Sperrgebiet. Bis auf die Lkw-Kolonne darf niemand durch, sagen die uniformierten Herren mit "Rendörseg" am Rücken, die Polizisten. Alle Einwohner der Ortschaft wurden längst evakuiert, ein riesiger Damm soll die befürchtete zweite Flutwelle aus den kaputten Becken des Aluminiumwerks umleiten. Die Sache mit den Lastern ist den beiden Aktivisten unheimlich: "Die kippen das irgendwo in die Landschaft, denn Deponie ist da ja keine."

Die Felder zwischen Kolontar und Devecser würden sich ausgezeichnet für ein Endzeit-Drama im Hollywood-Format eignen. Es fehlen eigentlich nur noch die handelsüblichen Monster, die blubbernd aus dem Sumpf kriechen. Regungslos liegt die Landschaft da, erstarrt, erstickt und ekelhaft stinkend. Hie und da sacken rotbraune Blätter von rotbraunen Bäumen in den rotbraunen Schlamm. Das war's, mehr Bewegung ist da nicht. "Das ist schon wirklich sehr schrecklich", stammelt Trenker, der schon viel gesehen hat. Nur so etwas eben noch nie.

Zweifel an Aussagen der Behörden
Der Informationsfluss aus Kolontar versiegt langsam. Niemand kommt mehr durch die Straßensperren, keiner kann sagen, wie weit der Bau des Schutzdammes schon fortgeschritten ist. Von 1,5 Kilometern Länge, 30 Metern Breite und vier Metern Höhe ist die Rede. "So eine Mauer schaffen in der kurzen Zeit nicht einmal die Chinesen", zweifelt Schaudinnus an den Angaben der ungarischen Behörden. Und selbst wenn: Was kann so ein Mega-Damm im Fall einer weiteren Giftwelle bewirken? "Kolontar ist halt geschützt, aber irgendwo muss das Zeug ja hin", befürchtet der Greenpeace-Mann die unausweichliche Fortsetzung der Umweltkatastrophe.

Mit großen Plastikflaschen nähern sich Schaudinnus und Trenker einer überdimensionalen Schlammlacke, die vor Kurzem noch ein Vorgarten war. Die Gummistiefel schmatzen bei jedem Schritt, denn die toxische Masse tritt in allen Aggregatzuständen auf. Mal ist sie zäh wie Kleister, dann wieder flüssig wie Wasser oder hart wie Beton. Und im schlimmsten Fall ist sie aus Staub. "Wir wollen unter anderem die Korngröße der Partikel messen, damit wir sagen können, wie weit der Staub verfrachtet werden kann." Dass Österreich diesbezüglich außer Gefahr ist, will Schaudinnus - vorsichtig ausgedrückt - nicht bestätigen. Unter seiner Schutzmaske ist irgendwas von "bis Graz" zu hören.

Eine sinnlose Reinigungsaktion als Beruhigungsmaßnahme
In regelmäßigen Abständen rollen schwere Tanklaster heran und besprenkeln die Gassen mit Wasser, damit der rotbraune Asphalt nicht auftrocknet. Dazwischen eine Dekontaminationsstation - mitten in der Schlammwüste. "Wozu soll das gut sein?", greift sich Schaudinnus an den Kopf. Reine Staffage, mehr nicht. Eine sinnlose Reinigungsaktion als Beruhigungsmaßnahme. Alle sollen sehen: Hier geht etwas weiter. Eine andere Möglichkeit sich einzureden, dass man mit dieser Apokalypse doch irgendwie zurande kommt, haben die Menschen in Devecser nicht. Weder die Helfer noch die Bewohner. 

Und dann ist da noch die Angst vor einem weiteren Dammbruch. Der ist angeblich so gut wie sicher. Einen zweiten Giftschlammtsunami würde das Dorf wohl nicht überstehen. Wenn es denn nicht ohnehin längst den roten Tod gestorben ist.

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