Desaster in Ungarn
Giftschlamm offenbar schon in Donau und Raab
Bei Messungen am Zusammenfluss von Raab (re.u.) und Donau sei ein leicht erhöhter Laugengehalt festgestellt worden, sagte ein Vertreter der ungarischen Wasserbehörde der Nachrichtenagentur MTI. Normalerweise liege der Wert bei acht Prozent, die Messungen hätten Werte um neun Prozent ergeben. Das Ökosystem des zweitlängsten Flusses Europas sei damit gefährdet.
In den Morgenstunden des Donnerstags besuchte Premierminister Viktor Orban das Krisengebiet. Orban meinte, er sehe keinen Sinn darin, die besonders zerstörten Teile der Ortschaft Kolontar wieder aufzubauen. Vielmehr sollte eine neue Siedlung gebaut werden.
Ein Fluss ist bereits tot
Ein Sprechers des Aufräumteams versuchte indes zu beschwichtigen. Der pH-Wert des Giftschlamms sei bereits unter zehn gefallen, der Sprecher meinte dazu, dass bei diesem Wert das ausgetretene Material keine Umweltschäden mehr anrichten könne. Den Marcal-Fluss, den rechten Seitenarm der Raab, hat die Schlammbrühe indes schon auf dem Gewissen. Es half auch nichts, dass die Behörden Gips in den Fluss schütteten, um Giftstoffe zu binden.
Überall seien tote Tiere zu sehen, berichtet Andreas Beckmann vom WWF. Die Behörden hatten auch Tonnen an Dünger in das Gewässer gekippt, um die ätzende Lauge zu binden. "Man weiß bis jetzt nicht, wie das alles miteinander reagiert. Es sei möglich, dass die Schwermetalle wieder freigesetzt werden." Für die Donau sieht der WWF-Mitarbeiter allerdings "keine besondere Gefahr".
Beckmann berichtet auch, dass bereits ein weiteres Gift-Schlamm-Becken Grund zur Besorgnis gebe: "Reservoir 9, das neben dem geborstenen Reservoir 10 liegt und ähnlich giftige Stoffe enthält, ist ebenfalls geschwächt. Die Behörden versuchen nun, auch den Inhalt dieses Beckens zu neutralisieren und kontrolliert zu entleeren."
Umweltmediziner: "Chronische Vergiftungen sind Problem"
Weiter unklar bleibt, wie giftig und gefährlich die im Industriesprech "Rotschlamm" genannte Brühe für Menschen und an Land lebende Tiere ist. Greenpeace hat bereits am Dienstag Proben gezogen und erwartet erste Labor-Ergebnisse für Freitag. Der Umweltmediziner Hans-Peter Hutter von der Medizinischen Universität Wien sieht eine erhebliche Gefahr für die Bevölkerung. "Nicht die akuten Vergiftungen bereiten mir Kopfzerbrechen, sondern die chronischen Vergiftungen", so Hutter. Erkrankungen wie Krebs sind die Folge, besonders anfällig sind die Organe wie Leber, Nieren und Harnblase.
Die Gefahr, dass jetzt akute Vergiftungsfälle auftreten würden, sei gering. "Den Schlamm nimmt man ja nicht zu sich", sagte Hutter. Das Hauptproblem sei das Wasser. "Wie wird die Trinkwasserversorgung in der nächsten Zeit in der Region aussehen", fragte der Umweltmediziner. "Wo dringt es durch, wie kommt es ins Grundwasser, wie in die Brunnen?" Wenn die stinkende Brühe aus der Wasserleitung komme, werde man es nicht trinken. Doch je weiter weg der Vorfall, desto mehr haben sich die Schadstoffe im Wasser verteilt. "Die Kontamination ist dann ohne Test nicht mehr leicht feststellbar", sagte Hutter. Für die Trinkwasserquellen müssten in Zukunft strenge Maßnahmen getroffen werden. "Es müssen laufend Proben gezogen und analysiert werden", so Hutter. Wie lange? "Bis nichts mehr drinnen ist." Und das könnte laut Hutter Jahre dauern.
"Das kann man nicht reinigen wie einen Parkettboden"
Die Erde in der vom Giftschlamm betroffenen Region sei das nächste Problem. "Der Boden ist kontaminiert, das kann ich nicht reinigen wie einen Parkettboden." Auch die Möglichkeit einer radioaktiven Verstrahlung der Gegend schloss Hutter nicht völlig aus. "Das wird man sehen." Regierungsvertreter in Ungarn sprechen davon, dass das Material keinesfalls radioaktiv sei, weil es kein Zyanid enthalte, Umweltorganisationen wie der WWF glauben nicht daran. Auch Hutter zweifelt, dass es bei den bisher erwähnten ausgetretenen Schadstoffen Blei, Kadmium, Arsen und Chrom bleiben wird. Der Umweltmediziner könne sich vorstellen, dass auch andere Problemstoffe wie Quecksilber im Schlamm sind, was Umweltorganisationen ebenfalls angedeutet haben.
Womöglich werde die Gegend gar nicht mehr bewohnbar sein, meint Hutter. Besonders die Bevölkerung wird von den Folgen in den kommenden Jahren massiv betroffen sein. "Für die Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben, ist der psychische Stress furchtbar", sagte Hutter. "Es ist apokalyptisch, wenn ich mir die Bilder ansehe." Jetzt sei es wichtig, dass die Betroffenen durch Kriseninterventionsteams psychisch aufgefangen werden. Die wenigsten werden wegziehen: "Auch rund um Tschernobyl sind sie nicht gegangen", so Hutter.
"Die Einwohner wollen nur noch weg"
Beckmann vom WWF berichtete am Donnerstag allerdings das Gegenteil. Es habe in Kolontar eine Bürgerversammlung gegeben, bei der mehr als 90 Prozent der Bevölkerung für eine Absiedlung plädierte. In den Dörfern rund um das Aluminiumwerk herrsche Endzeitstimmung: "Von Normalisierung kann keine Rede sein. Die Einwohner von Kolontar wollen nur noch weg." Dies sei umso verständlicher wenn man bedenke, dass sich durch viele Häuser eine rote Schlammmasse gewälzt hat, die die Anwesen für lange Zeit verwüstet und unbewohnbar gemacht habe.
Bei EU um Hilfe angesucht
Ungarn hat die EU-Partner inzwischen um Hilfe gebeten. Wie ein Kommissionssprecher am Donnerstagabend in Brüssel mitteilte, seien an Ort und Stelle sofort bis zu fünf Experten mit Erfahrung bei solchen Unfällen nötig. Budapest habe dazu den EU-Zivilschutz-Mechanismus ausgelöst. Die Kommission bat die Teilnehmerländer, Ungarn zu unterstützen. Umweltkatastrophen dieser Art machten nicht an Grenzen halt. An dem Zivilschutz-Mechanismus sind neben den 27 EU-Staaten auch Kroatien, Island, Liechtenstein und Norwegen beteiligt.
Die ungarische Regierung hatte den Schritt zuvor angekündigt. "Für derartige Fälle hat die EU Fonds, und wir haben einen Anspruch darauf", sagte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bei einem Besuch in der von giftigem Schlamm überschwemmten Ortschaft Kolontar.
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