"Die belügen uns"
Mangelnde Infos von Regierung: Wut und Angst in Japan
"Das wird ganz schlimm. Aber die Behörden berichten einfach nicht korrekt. Die sagen uns nicht, was wirklich ist. Die belügen uns. Wir alle haben solche Angst", erzählt Kiyoko Yoshimura aus Tokio verzweifelt. "Viele fliehen mit ihren kleinen Kindern, wer die Möglichkeit hat, geht in den Süden", sagt sie. "Ich bin in Sorge um meine Enkel, die sollen nicht verstrahlt werden." Man versuche, Normalität vorzugaukeln. "Es wird alles getan, um keine Panik auszulösen. Im Kindergarten nebenan soll es morgen ein großes Fest geben." Auch ihre Freundin Tomoko kritisiert: "Es wird nicht korrekt informiert."
Die Geduld hat bei vielen Menschen in Japan ein Ende, die Verzweiflung nimmt zu - und auch die Kritik an der Informationspolitik von Regierung und AKW-Betreiber Tepco. Regierungssprecher Yukio Edano - bisher immer sehr zurückhaltend in seiner Bewertung - räumt nun eine Gesundheitsgefahr ausdrücklich ein. Ministerpräsident Naoto Kan, selbst unter Druck, griff den AKW-Betreiber an, er sei als Regierungschef zu langsam informiert worden. "Kan hat massiv auf den Tisch gehauen und auch der Fernsehsender NHK hat sich auf Tepco eingeschossen, aber Tepco bekommt jetzt natürlich auch ein bisschen die Sündenbockrolle", sagte der Japanologe Reinhard Zöllner in Tokio.
"Die Menschen sind stinksauer"
"Die Menschen sind stinksauer", erzählte Zöllner. "Erst hieß es immer: 'Ja, wir haben die Situation im Griff'. Und jetzt die plötzliche Anordnung nahe Fukushima, dass alle weg müssen." Die Anspannung wachse massiv, aber die Stimmung sei nicht in Richtung Panik oder Chaos gekippt, glaubt er. "Die Regale werden leerer, die Warteschlangen länger, viele Grundschulen machen nach vier Stunden schon zu, weil die Lebensmittel für die Schulspeisung fehlen. Und immer mehr Leute verlangen konkrete Infos", beschrieb er die Lage in der Metropole.
"Wir sind hier heute Morgen alle sehr schockiert gewesen, wir dachten: Das ist jetzt der Super-GAU. Aber die Lage scheint sich wohl doch noch mal zu stabilisieren. Ich kann aber jeden verstehen, der jetzt flüchtet", sagte Zöllner. "Aber ich glaube, die große Mehrheit denkt nicht: Nach mir die Sintflut - und bleibt. Wenn im Großraum Tokio nicht mehr gearbeitet würde, wäre das auch das Ende der japanischen Wirtschaft - und würde einen Wiederaufbau unmöglich machen."
"Regierung zeichnet viel zu optimistisches Bild"
"Die Regierung und AKW-Betreiber Tepco zeichnen ein viel zu optimistisches Bild von dieser Krise", erklärte auch ein Umweltschützer, der die furchtbaren Auswirkungen radioaktiver Strahlung kennt: Ken Tsuzuku überlebte den US-Atombombenangriff auf die Stadt Nagasaki im Jahr 1945. Die Strategie, die Risiken der Atomkraft als extrem klein darzustellen, habe lange Tradition: "Um Atomenergie zu fördern und so viele Atomkraftwerke wie möglich zu bauen, können sie nicht über potenzielle Risiken sprechen", meinte Ken Tsuzuku.
Hiroshima-Überlebender Haruhidi Tamamoto ist ebenso frustriert. Die Behörden sprächen von kaum spürbaren Gesundheitsfolgen, was er für extrem leichtfertig hält. "Ich wünsche mir von ihnen mehr Krisenbewusstsein. Ich spreche aus eigener Erfahrung - ich leide seit Langem an Krankheiten, seit ich radioaktiver Strahlung ausgesetzt war", sagte Tamamoto laut der Nachrichtenagentur Kyodo.
Kritik: Informationen erst, wenn Vertuschen unmöglich wird
Haruko Moritaki, die Tochter eines Atombombenopfers und eine von Japans führenden Anti-Atom-Kämpferinnen sagte, die Regierung und der Kraftswerksbetreiber Tepco seien immer "mindestens einen Schritt hinter den Ereignissen zurück". Und sie rückten immer erst mit Informationen heraus, wenn sich Probleme nicht mehr verheimlichen ließen. Diese übervorsichtige Informationspolitik basiert laut Moritaki auf der Angst, dass die Fukushima-Krise heftige Kritik unter den bis jetzt Atomenergie freundlichen Japanern auslösen wird. "Stattdessen sollte man über eine mögliche Katastrophe und ihre Folgen nachdenken", sagte sie. Doch selbst in diesem Fall würden die Regierung und die Atomindustrie niemals ihre eigenen Fehler eingestehen, ist Moritaki überzeugt.
"Unsere Bürger wissen nicht, was sie tun sollen"
Der Bürgermeister der Stadt Minami Soma in der Präfektur Fukushima, Katsunomi Sakurai, konnte im Interview mit dem Sender NHK seine Tränen der Verzweiflung kaum zurückhalten: "Unsere Bürger haben Angst, sie wissen nicht, was sie tun sollen - und wir kriegen von der Regierung kaum Informationen."
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