Der Fall sorgt weltweit für Schlagzeilen: In der Grazer Uniklinik wurden 1990 zwei Babys vertauscht. Der Albtraum aller Eltern ist für eine Steirerin aus dem Bezirk Hartberg-Fürstenfeld zum persönlichen Schicksal geworden. 2012 erfährt die heute 50-jährige Evelin Grünwald, dass sie ein fremdes Kind aufgezogen hat. Seit drei Jahren sucht sie Antworten. Jetzt schildern Mutter und Tochter "Krone"-Redakteurin Barbara Winkler erstmals ihre unglaubliche Lebensgeschichte.
"Krone": Frau Grünwald, Ihre Tochter kam am 31. Oktober 1990 zur Welt. Welche Erinnerung haben Sie an den Tag der Geburt?
Evelin Grünwald: Bei der letzten Untersuchung in der 37. Schwangerschaftswoche wurde bei mir ein ungewöhnlich hoher Blutdruck gemessen. Weitere Tests wurden gemacht und man hat mich daraufhin mit dem Verdacht auf eine Schwangerschaftsvergiftung ins LKH Graz gebracht. Ursprünglich wollte ich ja, nachdem wir in der Oststeiermark zu Hause sind, mein Kind im Landeskrankenhaus Fürstenfeld bekommen.
"Krone": Was ist dann passiert?
Evelin Grünwald: In Graz wurde ich eingehend untersucht. Ich habe zu diesem Zeitpunkt noch immer gehofft, dass ich wieder nach Hause kann und meine Schwangerschaft normal zu Ende geht. Aber ich musste leider bleiben. Man fand heraus, dass etwas nicht stimmt, außerdem war das Kind zu klein, weshalb die Ärzte schnell handeln mussten.
"Krone": Ein Kaiserschnitt war vermutlich die Folge?
Evelin Grünwald: Genau. Leider. Am meisten Angst hatte ich vor der Vollnarkose. Es ist aber schließlich alles gut verlaufen, mein Kind kam um 19.19 Uhr gesund zur Welt.
"Krone": Was ist Ihre erste Erinnerung nach dem Aufwachen aus der Narkose?
Evelin Grünwald: Ich weiß noch dunkel, dass mir gesagt wurde: "Gratulation, Sie haben eine Tochter." Mein Mann und ich wollten das Geschlecht vorher gar nicht wissen. Ich wollte mich noch bedanken, aber ich war körperlich nicht imstande, konnte nicht sprechen. Das war im Aufwachraum. Da muss es etwa halb zehn am Abend gewesen sein. Ein wenig später ist mein Mann zu mir gekommen und hat gesagt: "Evelin, groß ist sie nicht, unsere Tochter, aber lieb."
"Krone": Wann konnten Sie Ihr Baby das erste Mal selbst im Arm halten?
Evelin Grünwald: Am Tag der Geburt gab es leider noch gar keinen Kontakt. Am nächsten Tag, das war also der 1. November, war's endlich so weit. Seitens des Personals hat mir leider den ganzen Tag niemand das Kind gebracht, selber aufstehen konnte ich wegen des Kaiserschnittes nicht. Also musste ich warten, bis mein Mann kommt. Am Nachmittag sah ich meine Tochter schließlich zum allerersten Mal.
"Krone": Und ab diesem Zeitpunkt ist für Sie, so nehme ich an, eine Verwechslung ausgeschlossen?
Evelin Grünwald: Absolut. Ab diesem Moment ist eine Verwechslung unmöglich. Das weiß wohl jede Frau, die schon einmal ein Kind bekommen hat. Und auch jeder Vater.
"Krone": Das bedeutet, dass der Zeitraum, in dem die Verwechslung passiert sein muss, auf wenige Stunden einzuschränken ist?
Evelin Grünwald: Richtig, mehr als 20 Stunden können es einfach nicht sein.
"Krone": Das heißt aber auch, dass die Aussage der Klinikleitung, wonach gar nicht feststünde, dass die Verwechslung im Spital passiert sein muss, Sie ärgert und verletzt?
Evelin Grünwald: Ja, das empfinde ich schon als Ungerechtigkeit. Meint man etwa, ich hätte Tage, Wochen, Jahre später mein eigenes Kind irgendwo anders verwechseln können? Das ist lächerlich.
"Krone": Szenenwechsel ins Hier und Jetzt. Wie haben Sie erfahren, dass Ihr Kind nicht Ihr leibliches ist?
Evelin Grünwald: Ich habe Doris immer gedrängt, Blut spenden zu gehen, weil ich finde, dass das wichtig ist, als Dienst am Mitmenschen. Na ja, und im Herbst 2012 hat sie das dann auch gemacht. Ein paar Tage nach diesem Termin ruft mich meine Tochter an und sagt: "Mama, da stimmt etwas nicht."
"Krone": Was war passiert?
Evelin Grünwald: Sie hat den Blutspendeausweis zugeschickt bekommen, worin vermerkt war, dass sie die Blutgruppe Null-positiv hätte. Wir wussten aber aufgrund der Aufzeichnungen im Mutter-Kind-Pass, dass Doris A-negativ hat. Zumindest glaubten wir das bis dahin.
"Krone": Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Evelin Grünwald: Gar nichts, wir dachten an einen Irrtum.
"Krone": Und dann?
Evelin Grünwald: Der Test wurde wiederholt, zusätzlich ein DNA-Test gemacht. Danach stand endgültig fest - mein Mann und ich sind nicht die leiblichen Eltern unserer Doris.
"Krone": Und in dem Moment ist für die Familie eine Welt zusammengebrochen?
Evelin Grünwald: Natürlich hatten meine Tochter und ich einen schweren Schock. Es hat relativ lange gedauert, bis wir uns wieder gefasst hatten. Die Nachricht ist ja derart unheimlich und unbegreiflich, die kann man gar nicht verarbeiten im ersten Moment. Aber wir wussten von Beginn an, uns kann nichts trennen, wir werden immer Mutter und Tochter bleiben. Mir hätte nichts Besseres als dieses Kind passieren können.
"Krone": Und wie ist es Ihnen, Doris, als 'falsche' Tochter gegangen?
Doris Grünwald: Für mich war's schon schlimmer als für meine Mutter. Ich hab in dem Moment, als die Verwechslung bestätigt wurde, am ganzen Körper gezittert.
"Krone": Danach folgten sicherlich viele Tränen?
Doris Grünwald: Ja, am Anfang hat es mich schon ordentlich mitgenommen. Auf so etwas ist man einfach in keinster Weise vorbereitet. Das zieht dir zuerst einmal den Boden unter den Füßen weg.
"Krone": Und was hat Ihr Vater dazu gesagt?
Doris Grünwald: Dem haben wir es lange Zeit gar nicht erzählt. Meine Mutter und ich wollten die Information zuerst einmal für uns behalten. Verarbeiten, was das heißt und in Ruhe nachdenken, was das für uns in Zukunft bedeutet.
"Krone": Hatten Sie, Evelin, als Mutter Ängste?
Evelin Grünwald: Ja. Einer meiner ersten Gedanken nach dem endgültigen Testergebnis war: Doris ist volljährig, sie kann mir nicht mehr weggenommen werden. Das schlimmste Szenario konnte also ausgeschlossen werden, somit war ich erleichtert.
"Krone": Und wann hat Ihr Mann nun von der schicksalhaften Verwechslung erfahren?
Evelin Grünwald: Das war an meinem 50. Geburtstag im vorigen Mai. Da nach den Testergebnissen sowohl die Grazer Uniklinik als auch die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen aufnahmen, musste auch mein Mann zu den Vorkommnissen befragt werden. Damit war klar, dass wir ihn jetzt einweihen müssen.
"Krone": Und?
Evelin Grünwald: Er hat so reagiert, wie ich gehofft habe. Seine ersten Worte waren: "Doris, du bist trotzdem unser Kind." Ihr um sieben Jahre jüngerer Bruder Philipp hat gleich reagiert: "Ich habe nur eine Schwester - und das bist du."
"Krone": Wie ist Ihre Geschichte jetzt, so viele Jahre später, plötzlich an die Öffentlichkeit gelangt?
Evelin Grünwald: Das wissen wir nicht. Für uns war es jedenfalls ein Riesenschock, unsere ganz private Geschichte plötzlich in der Zeitung zu lesen. Meine Eltern haben zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gewusst, dass ich nicht Doris' biologische Mutter bin.
"Krone": Apropos. Wissenschaftler streiten seit Jahrhunderten darüber, ob es eher die biologische Abstammung oder die Erziehung ist, die einen Menschen prägt. Wie sehen Sie das? Erkennen Sie sich in Ihrer Tochter wieder?
Evelin Grünwald: Natürlich! Wir sind beide gleich fröhliche Menschen, lachen gerne, versuchen das Leben positiv zu nehmen. Und schöne blaue Augen haben wir auch beide.
"Krone": Hadern Sie mit Ihrem Schicksalauses Graz zu bekommen, um von der Geschichte loszukommen?
Evelin und Doris Grünwald: Ja, das würden wir uns wirklich sehr wünschen.
"Krone": Im Jahr 2012 kam die Verwechslung durch das Blutspenden ans Licht. Die Grazer Uniklinik hatte also bislang gut drei Jahre Zeit, Ihr 'Gegenstück' zu finden. Warum dauert das so lange?
Doris Grünwald: Das wüssten wir wirklich auch gerne...
"Krone": Haben Sie Fantasien, wie ihre leibliche Tochter denn sein könnte?
Evelin Grünwald: Natürlich denkt man darüber nach. Wie schaut sie aus, wie lebt sie, was ist ihr bislang widerfahren. Aber im Endeffekt ist es nicht wichtig für mich. Allerdings hat meine Tochter sehr wohl das Bedürfnis, ihre biologische Mutter kennenzulernen.
Warum, lesen Sie in der nächsten Ausgabe der "Krone" und auf krone.at.
28 Frauen beim DNA-Test
Laut dem Grazer Uni-Klinikum kommen 200 Frauen infrage, die von der Verwechslung betroffen sein könnten. Diese musste laut offiziellen Angaben zwischen 15. Oktober und 20. November 1990 passiert sein. Die betroffene Mutter Evelin Grünwald glaubt allerdings, dass man die Zahl der tatsächlich infrage kommenden Frauen auf eine weit kleinere Zahl beschränken kann.
Die schicksalhafte Verwechslung ist der Steirischen Krankenanstaltengesellschaft - kurz Kages - als Spitalsbetreiber schon seit 2012 bekannt, man begann nachzuforschen. Nach einer Selbstanzeige der Kages begannen auch Staatsanwaltschaft und Polizei mit Ermittlungen. Die Justiz stellte das Verfahren allerdings Ende 2015 ein. Begründung: MAn wüsste nicht, ob das Vertauschen vorsätzlich passiert sei bzw. wer überhaupt zur Verantwortung zu ziehen wäre. Außerdem sei der Fall verjährt.
Mit dem Freitag haben sich mittlerweile 28 Frauen freiwillig zum DNA-Test gemeldet. "Die ersten Ergebnisse erwarten wir frühestens am Montag", sagt Kliniksprecherin Simone Pfandl-Pichler. Eine direkte Kontaktaufnahme mit den Betroffenen sei rechtlich nicht möglich.
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