Behördenversagen
Berlin: Anschlagspläne schon im Sommer bekannt
Hätte das Blutbad auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Montag mit zwölf Toten und mehr als 50 Verletzten im Vorfeld verhindert werden können? Das Versagen der Behörden wird jedenfalls immer deutlicher: Wie "Focus Online" am Donnerstag berichtete, soll das Landeskriminalamt im Bundesland Nordrhein-Westfalen bereits im Sommer über mögliche Anschlagspläne des mutmaßlichen Attentäters, des 24-jährigen Tunesiers Anis Amri, informiert gewesen sein. Ein Terrorismusforscher wirft den Behörden im "Fall Amri" bereits "systematisches Versagen" vor.
Wie "Focus Online" berichtete, soll Anis Amri im kleinen Kreis des Terrornetzwerks rund um den mittlerweile verhafteten Hassprediger Abu Walaa aus der niedersächsischen Stadt Hildesheim wiederholt von seinen Attentatsplänen gesprochen haben.
V-Mann informierte Behörden Ende Juli über Anschlagspläne
Darüber soll ein Verbindungsmann Ende Juli das LKA informiert haben. Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" bestätigten dies. Laut dem Verbindungsmann hätten sich Anhänger von Abu Walaa auch öfters im Keller einer Moschee in Hildesheim getroffen, um über mögliche Anschläge in Deutschland zu sprechen. Einer von ihnen habe dabei erklärt, was man sich darunter vorzustellen habe: Man plane, Polizisten umzubringen. Und: Man könne auch mit einem Lkw in eine Menschenmenge fahren. Das jedenfalls schilderte der Verbindungsmann den Ermittlern.
Amri anscheinend schon seit Sommer in Berlin
Amri soll laut "Focus Online" im heurigen Sommer endgültig nach Berlin verschwunden sein. Zuvor hätte die Gruppierung um Abu Walaa vergeblich versucht, Amri nach Syrien zur IS-Terrormiliz zu schleusen. Allerdings sei es der Gruppierung gelungen, ein Dutzend junger Muslime zum IS zu vermitteln. Insgesamt soll die Gruppe etwa zwei Millionen Euro an den IS überwiesen haben, die laut "Focus Online" aus Spenden, Einbrüchen und Betrügereien mit Handyverträgen stammten.
Terrorismusforscher: "Behörden wussten von Anschlagsabsichten"
Kein gutes Haar an der Arbeit der Behörden ließ der deutsche Terrorismusforscher Peter Neumann. Er warf den Behörden "systemisches Versagen" bei der Bekämpfung des Terrorismus vor. "Der mutmaßliche Attentäter Anis Amri war den Behörden bekannt. Man wusste, dass er die Absicht hatte, in Deutschland einen Anschlag durchzuführen, und trotzdem haben die Strukturen nicht funktioniert", sagte der am King's College in London lehrende Neumann am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur.
De Maiziere: "Über Konsequenzen ist zu reden"
Nach dem Anschlag geraten die Ermittlungsbehörden auch von politischer Seite unter Druck. "Es liegt offenbar ein Staatsversagen vor, das nicht toleriert werden kann", sagte FDP-Chef Christian Lindner der dpa. Gefährder müssten künftig lückenlos überwacht werden, notfalls mit elektronischen Fußfesseln. Der deutsche Innenminister Thomas de Maiziere und Justizminister Heiko Maas sagten, dass über "Konsequenzen" aus den Vorkommnissen später zu reden sei. CDU-Bundesvize Armin Laschet sagte im Deutschlandfunk: "Die Informationen, die wir bekommen, die können einen nur erschüttern, wie Behörden hier gearbeitet haben."
Haftbefehl gegen Amri erlassen
Unterdessen läuft die Suche nach der Terror-Bestie weiter. Am Donnerstag wurde Haftbefehl gegen Anis Amri erlassen. "Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand gehen wir davon aus, dass Amri den Lkw gesteuert hat", sagte die Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Sie wies darauf hin, dass verschiedene Orte in Nordrhein-Westfalen und Berlin, an denen sich Amri aufgehalten haben soll, durchsucht worden seien. Auch ein Reisebus in Heilbronn sei durchsucht worden. Festnahmen habe es keine gegeben. Zwölf Menschen wurden beim Anschlag auf den Berliner Weiohnachtsmarkt getötet, rund 50 teils lebensbedrohlich verletzt.
Fingerabdrücke Amris am Anschlags-Lkw gefunden
Wie de Maiziere am Donnerstag bekannt gab, haben Ermittler nun auch die Fingerabdrücke des Tunesiers im Fahrerhaus des Lastwagens gefunden. Es gebe zudem "andere Hinweise" darauf, dass der gesuchte Tunesier "mit hoher Wahrscheinlichkeit der Täter ist". Außerdem wurde eine Belohnung von bis zu 100.000 Euro für seine Ergreifung ausgelobt.
Die Terror-Bestie: Feuerteufel, Asylwerber, Islamist
Wie berichtet, hat der mutmaßliche Attentäter ein langes Vorstrafenregister. Der 24-Jährige wurde in Deutschland von März bis September sogar observiert und im August wegen gefälschter Ausweispapiere bereits einmal verhaftet, dann aber wieder freigelassen. Zuvor war er in Tunesien und Italien wegen zahlreicher Delikte zu Haftstrafen verurteilt worden. Wie die "New York Times" berichtete, soll Amri online direkten Kontakt zur Terrormiliz IS gehabt haben. Inzwischen sind erste Videoaufnahmen aufgetaucht: Der Täter hatte sich - mit einem Lied auf den Lippen - in Berlin selbst gefilmt (siehe Video unten).
Video: Terror-Bestie von Berlin singend an der Spree
Geplante Abschiebung Amris scheiterte
Eine bereits im Sommer geplante Abschiebung des Tunesiers scheiterte unter anderem daran, dass die Behörden seines Heimatlandes Amri nicht als tunesischen Staatsbürger anerkannten. Der mutmaßliche Täter war von den deutschen Sicherheitsbehörden zudem als islamistischer "Gefährder" eingestuft worden und hatte zeitweise unter Beobachtung gestanden. Daher gibt es auch Kritik daran, dass er sich frei bewegen und seine Anschlagspläne umsetzen konnte.
Dem "Spiegel" zufolge bot sich Amri bereits vor Monaten als Selbstmordattentäter an. Das Magazin beruft sich auf die Auswertung der Telefonüberwachung sogenannter Hassprediger. Allerdings seien die Äußerungen Amris so verklausuliert gewesen, dass sie nicht für eine Festnahme ausgereicht hätten. Demnach erkundigte sich der Tunesier auch, wie er sich Waffen beschaffen könne.
Merkel: "Stolz auf besonnene Reaktion der Bürger"
Unterdessen begrüßte Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel die besonnene Reaktion der Bürger auf den Anschlag in Berlin. "Ich bin in den letzten Tagen sehr stolz gewesen, wie besonnen die große Zahl der Menschen auf diese Situation reagiert", sagte sie. Deutschland habe "theoretisch immer gewusst, dass wir auch Zielscheibe des internationalen Terrorismus sind". Wenn der Fall eintrete, sei es aber "noch einmal etwas ganz anderes".
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