Ansturm auf Italien

Europa steuert auf neue Flüchtlingskrise zu

Ausland
03.07.2017 05:55

Mangelnde Unterstützung in der Flüchtlingskrise hat Italiens Innenminister Marco Minniti der EU am Sonntag vorgeworfen. Ursache für die scharfe Kritik an der Brüsseler Hochbürokratie ist zunehmende Nervosität in Italien wegen der steigenden Zahl illegaler Migranten auf Sizilien, wo allein in der vergangenen Woche mehr als 13.000 Menschen gelandet waren. Sie kommen aus Nigeria, Eritrea, Pakistan, dem Irak und Mali - und sie ziehen jetzt nordwärts.

Beobachtungsposten in den süditalienischen Küstenregionen berichten, dass alleine in der vergangenen Woche 13.000 bis 15.000 illegale Migranten in Sizilien angekommen sind: Bootsflüchtlinge, die von Libyen aus über die Mittelmeerrouten in Europa gestrandet sind.

Soweit es dazu überhaupt verlässliche Statistiken gibt, sind damit seit Anfang des Jahres rund 83.000 Flüchtlinge in Italien gezählt worden. Das sind 20 bis 25 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres. Gestorben oder als vermisst gemeldet sind nach der Flucht über das Mittelmeer in den vergangenen sechs Monaten mehr als 2000 Menschen.

Gerettete Flüchtlinge auf einem Hilfsschiff im Mittelmeer (Bild: AFP)
Gerettete Flüchtlinge auf einem Hilfsschiff im Mittelmeer

Militär-Prognosen: 250.000 Flüchtlinge
In den Brüsseler Lagebeobachtungsdiensten lauten die Prognosen, dass zumindest für heuer in Italien mit der Ankunft von 230.000 bis 250.000 Menschen zu rechnen ist. Die Herkunftsländer der Flüchtlinge sind Nigeria, Eritrea, Pakistan, Irak und Mali. Militärische und polizeiliche Spezialisten der EU berichten zudem, dass "Italien sich durchaus bemüht, die illegalen Migranten mobil zu halten", wie ein Spitzenbeamter berichtet. Konkret heißt das, dass den Flüchtlingen bei der Überfahrt von Sizilien auf das Festland Unterstützung gegeben wird.

(Bild: krone.at-Grafik)

Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) drängte im Gespräch mit der "Krone" am Sonntag einmal mehr darauf, dass in der Europäischen Union die Anstrengungen verstärkt werden, die Flüchtlingsrouten über das Mittelmeer endlich zu schließen.

Innenminister Wolfgang Sobotka (Bild: APA/Herbert Neubauer, AFP)
Innenminister Wolfgang Sobotka

Überwachungsbilder haben zuletzt ergeben, dass viele der Flüchtlinge afrikanischer Herkunft sich von Italien aus Richtung Frankreich und Schweiz auf den Weg gemacht haben. Allerdings rechnen Experten auch mit einer möglichen Zuspitzung der Lage an der italienisch-österreichischen Grenze. Der Brenner-Übergang gilt als einer der nächsten Anlaufposten für die aus dem Süden kommenden Flüchtlinge.

24 Stunden Vorwarnzeit für die Brenner-Grenze
In Österreich werden jedenfalls unter Anweisung des Innenministeriums die technischen und baulichen Vorbereitungen zu einer möglichen Schließung der Brenner-Grenze zu Italien intensiviert, um im Ernstfall vorbereitet zu sein. Im Eskalationsfall wird die Vorwarnzeit mit etwa 24 Stunden beurteilt.

(Bild: AFP)

Strategie-Gipfel der Innenminister in Paris
Sonntagabend sind die Innenminister Frankreichs, Deutschlands und Italiens zu einem Krisengipfel in Paris zusammengetroffen. Man wolle "ein abgestimmtes Vorgehen" aufgrund der deutlich steigenden Zahl von Flüchtlingen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. UNO-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagte: "Was sich vor unseren Augen in Italien abspielt, ist eine Tragödie."

Flüchtlinge unter spanischer Flagge im italienischen Hafen von Salerno (Bild: AP)
Flüchtlinge unter spanischer Flagge im italienischen Hafen von Salerno

Kommentar von Claus Pándi: Alles leiser
Die Vorzeichen sind ähnliche, aber doch verhält es sich derzeit nicht ganz so wie im September 2015. Damals, während der großen Krise, öffnete Österreich die Grenzbalken zu Ungarn für die noch überwiegend syrischen Kriegsflüchtlinge - um sie mit pompöser humanistischer Geste nach Deutschland weiterzuwinken.

Die europäischen Regierungen hätten damals gewarnt sein können. Nachrichtendienstliche Militärs hatten die dramatischen Entwicklungen in Syrien und die möglichen Folgen für Europa schon die längste Zeit vorhergesagt.

Diesmal bahnt sich die Krise mit weniger dramatischen Hinweisen an. Es sind nicht wie damals im Herbst 2015 mehr als 700.000 Flüchtlinge, die in nur sechs Monaten nach Europa gekommen sind. Die Fernsehbilder liefern nicht wie vor zwei Jahren täglich erschütternde Nachrichten aus den syrischen Kampfzonen in Europas Wohnzimmer und Staatskanzleien.

Diesmal läuft alles leiser, weniger aufgeregt, nicht so alarmierend. Das ist einerseits gut. Andererseits birgt das die Gefahr, unaufmerksam für das vielleicht noch Kommende zu werden. Die bemerkenswerte Ruhe mag vielleicht damit zu tun haben, dass einige in der Politik das Flüchtlingsthema im Wahlkampf überhaupt nicht brauchen können. Schließlich wird in Deutschland im September gewählt, und in Österreich wählt man im Oktober.

Bei aller Gelassenheit: Ignoriert werden dürfen die Signale nicht. Eine zweite Krise wie im Herbst 2015 könnte für Europa unabsehbare Folgen haben.

Kronen Zeitung

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