1.500-Seiten-Manifest
So bereitete Anders Breivik das Utöya-Massaker vor
Der Autor nennt sein Werk, das ihn laut eigenen Angaben neun Jahre Arbeit und rund 300.000 Euro an finanziellen Mitteln gekostet hat, "2083 - Eine europäische Unabhängigkeitserklärung".
Kämpfer gegen "islamische Kolonisation"
In der Einleitung erklärt er, dass mit dem Werk, das in drei Bänden veröffentlicht werden sollte, jene Inhalte abgedeckt werden, "die von den Regierungen und 'politisch korrekten' Massenmedien den Menschen bewusst vorenthalten wurden". "Andrew Berwick" sieht sich dabei als Vorkämpfer gegen "kulturellen Marxismus" bzw. "Multikulturalismus" und die seiner Meinung nach voranschreitende "islamische Kolonisation Westeuropas", die er mit gezielten Gewalttaten von "Patrioten" aufhalten will. Abschließend bedankt er sich bei Mitstreitern - unter anderem auch aus Österreich (!) - für die Hilfe bei seinem Buch.
Auf knapp 800 Seiten wird anschließend die Geschichte aus einer "nationalistischen Sichtweise" aufgerollt, wobei der Autor eine ständige Gefahr für die westliche Kultur durch den Osten - und hier vor allem dem Islam - heraufbeschwört. In den letzten Jahrzehnten sei es durch die Regierungen sogar zur Vorbereitung eines "nationalen Selbstmordes" gekommen. Diesen gelte es durch entschlossene Taten aufzuhalten.
"Gewalt ist die Mutter allen Wandels"
Dabei wird kaum ein Blatt vor den Mund genommen, zu welchen Mitteln man greifen müsse, um eine Gesellschaftsordnung nach dem Weltbild des Autors herzustellen. "Gewalt ist die Mutter allen Wandels", gesteht er frei heraus und prophezeit in den Jahren 2070 bis 2083 eine Phase des Bürgerkrieges in Westeuropa. In diesen Jahren würden sich für die "rechtsradikalen Kräfte" neue Möglichkeiten ergeben, an die Macht zu kommen.
Dabei gelte es "auf den geeigneten Zeitpunkt zu warten". Dieser könne aber auch künstlich herbeigeführt werden, indem politische Gegner gezielt provoziert werden ("durch Ermordungen einzelner Personen oder Terroranschlägen auf Moscheen"). "Gewalttätige, aber auch friedliche" Proteste gegen diese Provokationen sollten niedergeschlagen, das "Kriegsrecht verhängt" und "interne Feinde eliminiert" werden. Nach sechs bis 24 Monaten sollte sich dann laut Ansicht des Autors eine rechtsradikale Regierung etabliert haben.
Penibles Tagebuch über die Attentats-Vorbereitungen
Das Machwerk von "Andrew Berwick" versteht sich dabei aber nicht nur als Prognose einer blutrünstigen Zukunft, sondern auch als Handlungsanweisung für den Alltag. Dies beweisen die letzten 100 Seiten, welche als "Tagebuch eines Tempelritters" geführt werden. Darin sind penible Aufzeichnungen über die Gedankenwelt und persönlichen Empfindungen des Autors enthalten mitsamt einer Beschreibung von "mehreren Phasen der Vorbereitung auf die 'Operation' (womit offensichtlich die Anschläge in Oslo und das Massaker auf Utöya gemeint sind, Anm.)".
Der erste Eintrag vom April 2002 beschreibt dabei ein Treffen eines Tempelritter-Ordens in London, das dem Autor laut eigenen Aussagen die Augen über den Zustand der Gesellschaft öffnet und ihn zum Austritt aus der rechtsliberalen norwegischen Fortschrittspartei bewegt: "Ich werde mich nicht mehr in der Partei engagieren, weil ich den Glauben an einen demokratischen Weg zur Verhinderung der Islamisierung von Europa verloren habe. (..) Der bewaffnete Kampf erscheint derzeit zwar aussichtslos, ist aber dennoch die einzige Möglichkeit, die uns noch bleibt."
Die Tarnung als Bio-Bauer wird aufgebaut...
Kurz darauf beginnt "Berwick" mit der Planung seiner "Europäischen Unabhängigkeitserklärung", wofür er drei Millionen Euro aufstellen will, vor allem um das noch zu schreibende "Kompendium" legal über eine "Pan-Europäische Organisation" vertreiben zu können. Bis 2005 hat er laut eigenen Angaben 500.000 Euro beschafft, womit er aber noch immer weit unter den eigenen Vorgaben liegt. Im Herbst 2009 befindet sich der Autor in einem "Phasenwechsel". Er beschreibt, wie er "professionell aussehende" Firmen gründet, um einen Vorwand zu haben, an Bestandteile von explosiven Stoffen - die etwa in Dünger enthalten sind - zu kommen. Dazu gründet er etwa auch das Bio-Unternehmen "Geofarm" - obwohl er das Bauernleben in einem späteren Eintrag als "fucking boring" (todlangweilig, Anm.) beschreibt.
Im Juli 2010 ist die "Phase der Munitionsbeschaffung" abgeschlossen, laut Tagebucheintrag vergräbt der Autor sein Arsenal "tief in den norwegischen Wäldern" und geht zur "Phase der Waffenbeschaffung" über. Zuerst versucht er das gewünschte AK47-Gewehr und die Glock-Pistolen samt Splittergranaten direkt bei Schmugglern in Ostblockländern zu beziehen, beschließt dann aber nach einigen Enttäuschungen, doch den legalen Weg in Norwegen zu beschreiten, "auch wenn dies meine Mission gefährden könnte".
Jagdleidenschaft als Vorwand zum Waffenkauf
Der Autor stellt einen Antrag auf Besitz einer Ruger MINI-14, einem leichten halb automatischen Selbstladegewehr, und gibt dabei "Tierjagd" als Begründung an. "Es wäre aber sehr verlockend gewesen, einfach die Wahrheit zu schreiben, nämlich: Marxisten und Multi-Kulti-Verräter zu exekutieren", fährt der Eintrag fort. Zudem legt sich "Berwick" noch Pistolen zu und schreitet zur "Explosivstoff-Phase" - in die auch die Bestellung von größeren Mengen Düngers fällt. Am 27. April 2011 verkündet ein Eintrag voller Stolz den Abschluss dieser Vorbereitungen.
Ab 2. Mai zieht sich "Berwick" auf eine gemietete Farm, die rund zwei bis zweieinhalb Stunden von der Hauptstadt Oslo entfernt liegt, zurück und beschreibt, wie er Sprengstoff herstellt, um für die "Operation" gerüstet zu sein. Am 14. Mai fühlt er sich jedoch etwas abgelenkt: "Heute ist das Finale des Eurovisions-Song-Contests, ich liebe diesen Wettbewerb! Es gibt da zwar viel schlechte Musik, aber die Show ist alles in allem großartig! Ich habe alle Semifinal-Ausscheidungen angeschaut und werde mir später die Zeit nehmen, die Entscheidung online anzusehen."
Eurovisions-Song-Contest: "Ich hoffe, Deutschland gewinnt!"
Aber auch diese beinahe niedlich anmutenden Ausschweifungen verbindet er mit seinen politischen Ansichten: "Mein Land tritt wieder einmal mit einem politisch korrektem Mistbeitrag an. Irgend so ein kenianischer Asylant mit einem 'Bongo-Lied', sehr repräsentativ für diesen Staat und Europa... Egal: Ich hoffe, Deutschland gewinnt!" Bereits am nächsten Tag scheint er wieder voll mit der Herstellung von Sprengstoff beschäftigt gewesen zu sein.
Bis weit in den Juni experimentiert der Autor mit explosivem Material und schreibt seine Beobachtungen penibel auf - auch um "Nachahmern meine Fehler zu ersparen". Am 18. Juni ein kurzer Schockmoment: Die Freundin des Farmbesitzers kündigt an, in der nächsten Stunde vorbeizuschauen, um einiges Werkzeug aus der Scheune abzuholen. Dort hat "Berwick" aber seinen bisher produzierten Sprengstoff gelagert. Nur mit Ausreden gelingt es offensichtlich, die Frau auf später zu vertrösten und ein Auffliegen zu verhindern.
Anfang Juli: Vorbereitungen auf das Massaker starten
Mit 1. Juli beginnen die Vorbereitungen auf die in den Eintragungen nie genau definierte "Operation" - dennoch lässt sich herauslesen, dass es dabei offensichtlich um die Ereignisse, die Norwegen und die Welt erschüttern sollten, geht. "Berwick" holt die Munition aus dem Versteck, kontrolliert seine Waffen penibelst auf Funktionstüchtigkeit, mietet sich ein Auto und versieht es mit den in den letzten Monaten produzierten Sprengsätzen. Alles steuert auf den großen Höhepunkt aus Sicht des Autors - den 22. Juli - zu.
"22. Juli, 12.51 Uhr: Ich glaube, das ist mein letzter Eintrag"
Danach kündigt der Autor für den 22. Juli Vorbereitungen "für die Detonationen" an, mit der gleichzeitigen Besorgnis, "hoffnungslos verschuldet" zu sein. "Das ist eine 'Alles oder nichts'-Situation", meint "Berwick", um dann einen Scherz loszulassen, der für Mitglieder der sozialdemokratischen Jugendorganisation Norwegens am Freitag zum tödlichen Ernst wurdine mit allen Insignien. Das wird der absolute Wahnsinn, die Leute werden sehr erstaunt sein."
Den letzten Eintrag scheint er schließlich kurz vor den Quellenangaben für sein "Kompendium", das er "mit besten Grüßen" unterschreibt, gesetzt zu haben. Der Satz lautet schlicht: "Ich glaube, das ist mein letzter Eintrag. Es ist jetzt Freitag, der 22. Juli um 12.51 Uhr." Wenige Stunden später explodiert die erste Bombe im Regierungsviertel von Oslo...
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