Manche Worte gewinnen erst im Nachhinein an Bedeutung... L. A., im März 1928: „Never start a fight, always finish it – Bringe jeden Kampf, den du beginnst, zu Ende“, gibt die alleinerziehende junge Frau ihrem Neunjährigen, den eine Rangelei in der Schule beschäftigt, mit auf den Weg. Und ja, sie wolle mit ihm am nächsten Tag ins Kino gehen, müsse jetzt aber zur Arbeit. Eine Sonderschicht bei der Pacific Telephone and Telegraph Company. Der Sohn nickt hoffnungsfroh, verspricht, ein guter Junge zu sein. Zärtlich umhüllt ihn der Blick seiner Mom, die in Eile ist. Als Christine Collins Stunden später zurückkehrt, fehlt vom kleinen Walter jede Spur. Ungehört verhallt sein Name in dem plötzlich feindselig wirkenden Haus. Wie auch der stumme Schrei einer Mutter, für die ein veritabler Albtraum beginnt.
„A true story“ – eine wahre Geschichte, so der lakonisch-prägnante einzeilige Kommentar, der dem nicht minder verstörenden Filmtitel folgt: „Changeling“, was so viel wie Wechselbalg bedeutet. Ein ungnädiges, böses Wort für ein vertauschtes Kind, das erst sehr viel später Sinn machen wird. Die Verfilmung eines Kriminalfalls, der Mitte der 1930er-Jahre die Justiz Kaliforniens in ihren Grundfesten erschüttert und die Westküstenmetropole nicht „Stadt der Engel“ sein lässt, sondern als moralischen Sumpf in der großen Depression zeigt, ist ein weiteres Meisterwerk von Clint Eastwood – seine 28. Regiearbeit wurde in Cannes 2008 mit Standing Ovations bedacht –, dessen Komplexität und Vielschichtigkeit sein Publikum einmal mehr gleichermaßen fesselt und fordert.
Wie eine Löwin kämpft sie um ihren Sohn
Mit der Rolle der Christine Collins gibt er Angelina Jolie, inmitten einer ganzen Phalanx brillanter Kollegen, die Bühne für eine ihrer besten Leistungen – als Mutter, die wie eine Löwin kämpft. Im Herbst seines Lebens präsentiert sich „Dirty Harry“, das einstige Westernraubein, als bekennender Feminist im besten Sinn des Wortes, der hier eine selbstbewusste Lady auf ihrer obsessiven Suche nach der Wahrheit via grandiose Regie durch eine von Männern beherrschte frauenfeindliche Welt begleitet. Ein ambivalenter Rächer bleibt der zynische Haudegen von einst in diesem Melodram dennoch...
Erschütternd der Moment, als das LAPD – die Polizei von L. A. – nach Monaten und unter großem pressewirksamen Tamtam der entsetzten Mutter auf dem Hauptbahnhof einen anderen Jungen als ihren (!) wieder aufgetauchten Sprössling präsentiert, ein falsches Kind also, ja, einen fremden Sohn, und Christine Collins verzweifelt feststellen muss, dass sie nur eine Schachfigur in einem sehr bösen Vertuschungsakt ist. Bei den Behörden beißt sie mit ihrer fortgesetzten Suche nach dem richtigen Walter, ihrem Fleisch und Blut, auf Granit. Schließlich verschleppt man sie gewaltsam in eine Psychiatrie, wo ihr Willen unter Folter gebrochen werden soll, um den Ruf der überforderten Polizei nicht weiter zu gefährden. Ein Presbyterianer-Geistlicher – herrlich manieriert: John Malkovich – kommt ihr schließlich zu Hilfe. Gleichzeitig deckt ein Beamter eine verstörende Mordserie auf, – das blutige Werk eines Serienkillers, der 20 Kinder auf dem Gewissen hat. Und Christine Collins will Gewissheit, sucht die Konfrontation mit der Bestie.
Schönheit und Eleganz, gepaart mit Trauer
Ja, es gibt sie, die selbstgefälligen Spötter, die Angelina Jolies madonnengleichem Antlitz wahre Verzweiflung absprechen wollen. Zu rot sei der verführerische Mund, zu perfekt das in sanfte Wasserwellen gelegte Haar, zu kokett das Hütchen, zu trauerumflort der perfekt geschminkte Blick. Schönheit und Eleganz, gepaart mit Trauer, waren den Menschen von jeher suspekt. Kunstgeschichtliche Pietà-Darstellungen belehren uns eines Besseren. Und so gewinnt Clint Eastwoods exquisites Regie-Gefüge aus Thriller, Sozialkritik und letztlich Gerichtsdrama all seine Größe und wahre Kraft aus der Mimik, den Gesten und der Emotion eines zu Unrecht ausschließlich als Action-Heroine gehypten Hollywoodstars. Denn Angelina Jolie lässt sehr private Mutterinstinkte auf berührende Weise hervorbrechen. Die gebetsmühlenartige Wiederholung des Satzes „Wo ist mein Sohn?“ bringt ihre Stimme zum Zittern. Nach den Oscar-Weihen für „Million Dollar Baby“ und „Mystic River“ hätte Clint Eastwood jede haben können. Er wollte Angelina.
Im Mai letzten Jahres hatte die Aktrice an der Seite von good old Clint Eastwood den brisanten Streifen hochschwanger in Cannes präsentiert. Angelina Jolie: „To lose a child, I cannot imagine anything worse – Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als ein Kind zu verlieren. Nicht um sein Schicksal zu wissen und dann auch noch für hysterisch und nicht zurechnungsfähig erklärt zu werden!“ Worte einer sechsfachen Löwenmutter.
Von Christina Krisch, Kronen Zeitung
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