1995 spielte die Kelly Family vor etwa 250.000 Menschen beim Wiener Donauinselfest das größte Konzert ihrer Karriere. 23 Jahre später kehren sieben der neun Bandmitglieder auf ihrer Comeback-Tour in die Nähe ihrer einstigen Wirkungsstätte zurück, und konzertierten etwa drei Stunden in der ausverkauften Stadthalle. Ein Abend voller Emotionen, Nostalgie und großer Hoffnungen.
Die Zeit heilt nicht nur alle Wunden, sie rückt scheinbar festgefahrene Dinge manchmal auch in ein neues Licht. Es ist ein Leiden jeder Generation, dass man vorschnell über den musikalischen Zeitgeist urteilt. Was wurde nicht über das US-Boyband-Wunder Backstreet Boys gelacht – vor wenigen Jahren füllten sie die Wiener Stadthalle. Wer hat sich damals nicht das Maul über die deutschen Discodiktatoren Scooter zerrissen und grölt heute stimmbandgefährdend „How Much Is The Fish?“ durchs Gasometer. Und wer versuchte nicht mit allen zur Verfügung stehenden Kräften in der Schule zu den Coolen zu gehören und die kosmopolitische Hippie-Sippe Kelly Family mit Spott und Hohn zu übergießen? Doch wenn die Aufgrund von Lustlosigkeit und anderweitiger Ambitionen um Paddy und Maite dezimierte Familie nach jahrelanger Absenz in die Wiener Stadthalle lädt, dann kommen sie alle.
Zwei Donauinsel-Mengen
Die Die-Hard-Fans der ersten Stunde, die Nostalgiker, die bei den Balladen noch einmal die Tränen ihres 12-jährigen Selbst erleben wollen, die Skeptiker, die sich mit einer gehörigen Portion beißenden Zynismus ins Getümmel stürzen und die einst dezidierten Gegner, die heute selber gerne mitsummen und ihre damalige Antipathie mit einem störrischen „so schlimm war’s eh nicht“ abtun. 10.300 Fans bedeutet Full House – und das bereits seit Monaten. „Für die ganze Comeback-Tour haben wir bislang etwa 450.000 Karten verkauft“, berichtet John vor dem Konzert im Interview, „und weil die Hallentour rundum komplett ausverkauft ist, legen wir im Sommer noch ein paar Open-Air-Shows nach, damit auch die eine Chance haben uns zu sehen, die bislang leer ausgegangen sind.“
Knapp drei Stunden samt 25-minütiger Kreativpause hat die siebenköpfige Truppe pro Abend für seine Fans veranschlagt und schon beim eingespielten Eröffnungsvideo ist klar, dass hier keine Sekunde ohne emotionale Ausbrüche vergehen wird. Als Jimmy Kelly die ersten Töne des Openers „I Can’t Stop The Love“ ansingt sind die Sitzplätze in der Hallenmitte längst obsolet. Wahlweise mit Leuchtschlangen oder Handytaschenlampen ausgerüstet zelebriert die begeisterte Masse ihre Helden, die freudige Nostalgie und das Leben selbst. Die Kelly Family war einst das Paradebeispiel für Gefangenschaft in Freiheit. Familienoberhaupt Dan Kelly, 2002 verstorben, gewährte mit dem nomadenhaften Leben zwar Unabhängigkeit und Selbstfindung, die patriarchalischen Familienstrukturen trieben schlussendlich aber nicht nur die Band auseinander, sondern einzelne Mitglieder zu Burn-Outs und Suizidgedanken.
Rollenspiele
Umso mehr ist die Live-Botschaft eine des weltlichen Zusammenhalts, fernab jeglicher Polit- oder Gesellschaftsstrukturgedanken. Für Dunkelheit ist kein Platz, das zeigen schon die bunten Bühnenlichter, die ständig aus allen Rohren feuernden, farbenfrohen Konfetti und die mannigfaltige Kolorierung einer Familie, die sich im Gesamten gleicht, im Einzelnen aber nicht unterschiedlicher sein könnte. Gar nicht mal so anders wie bei Boybands bekleidet auch bei den sieben Kellys jeder seine Rolle – nur dass diese hier authentisch und ungekünstelt wirken. Paul, der angekündigte „Special Guest“ und Gründungsmitglied von 1974, gibt den schroffen Traditionalisten mit Drehleier und hochgekrempelten Stutzen. Mehr Imker als Musiker. Kathy Kelly, mit 55 die älteste auf der Bühne ist die Glitzerkleid tragende Matrone, die mit Ziehharmonika und Bestimmtheit durch den Abend leitet.
John, dank glatter Haut und Tom-Petty-Stufenschnitt optisch gute zehn Jahre jünger als die 51, die sein Geburtsschein zeigt, ist der stets adrett gekleidete Gentleman, der einen Schuss Beatles-Pop in die Band bringt. Die kränkelnde Patricia ist die fragile Königin der Balladen, Jimmy würde mit seinem röhrenden Organ liebend gerne Bryan Adams sein, scheitert aber am begrenzten Stimmvolumen. Ausdauersportler Joey, von allen Anwesenden der mit der schillerndsten Karriere außerhalb der Familienzusammenkunft, ist die personifizierte Rocksau. Bei „Why Why Why“ läuft er im Angus-Young-Stil die Bühne entlang und knattert zwischen Feuerfontänen seine Soli, im ballernden „The Wolf“ erinnert er in Mimik und Gestik frappant an Axl Rose.
Liebe und Bon Jovi
Und dann wäre da noch das Bandküken Angelo Kelly, mit 36 mittlerweile auch schon fünffacher Vater, der seinen Nachwuchs nach bester Familientradition erzieht und wenn er nicht gerade selbst auf seine Becken eindrischt, die eindrucksvollste Stimme hat. Nicht nur beim Welterfolg „An Angel“, das selbstredlich aus allen Kehlen im Saal tönt, sondern auch bei flotteren Stücken wie „Fell In Love With An Alien“ oder „I Can’t Help Myself“ entfaltet sich sein Talent. Er ist der Mann für die Hits und lässt während eines Drum-Solos gar seine stattliche Matte kreisen, während die Schläge härter drücken als die letzten fünf Bon-Jovi-Studioalben. Dazwischen bleibt genug Platz für das wichtigste Thema der Welt. „We Got Love“, „Because It’s Love“, „danke Wien, seid ihr die Stadt der Liebe?“
Zumindest ist Wien heute der Nährboden für Spaß und Erleichterung. Nichts wirkt an der Kelly Family anno 2018 erzwungen oder forciert. Hier spielen erwachsene und mündige Musiker gekonnt an ihren Instrumenten, zelebrieren ihre einzigartige, mehr als vier Dekaden andauernde Karriere und vermitteln mit ihrer geschwisterlichen Zutraulichkeit ein wohliges Gefühl der Geborgenheit – auch wenn man die technische Raffinesse den Background-Musikern überlässt. Sechs versierte Könner stehen im Hintergrund und besorgen den Großteil der Gitarrensoli und Taktwechsel – die Kellys gehen derweil ein ums andere Mal auf Tuchfühlung mit ihrem Publikum, verbinden ihre jahrelange Weltreise mit landestypischen Liedern und bleiben immer bodenständig und nahbar. Zweifellos eines der wichtigsten Erfolgsrezepte neben dem ungewöhnlichen Werdegang und dem eindringlichen Gespür für Hits.
Nachschlag im Sommer
So wie die Bandmitglieder über all die Jahre, gehen ihre Fans heute innerhalb von drei Stunden durch ein Wellental an Emotionen. Aufregung, Freude, Trauer, Jubel, Erleichterung und völlige Erschöpfung. Ein als „das Comeback des Jahres“ angekündigtes Konzert kann die hohen Erwartungshaltungen lange wartender Fans schnell enttäuschen. Das wussten Joey, Angelo und Co. mit viel Spielfreude und einem leicht geschönten Blick zurück erfolgreich zu verhindern. So bleibt der einzige Skandal das bereits im Vorfeld ausgesprochene Luftballonverbot. Ob das auch für die nächsten Österreich-Shows gilt, ist noch unklar. Auf den Messegeländen in Dornbirn (6. Juli) und Salzburg (7. Juli) gibt es für die Jünger einen verdienten Nachschlag. Aber kann das angesichts des runderneuerten Hypes wirklich alles sein? „Bis jetzt sind wir noch friedlich unterwegs und keiner ist ausgeflippt“, kommentiert Kathy das Thema schmunzelnd, aber ausweichend, „nach all den Shows werden wir uns zusammensetzen und weiterschauen“. Mit ziemlicher Sicherheit aber ohne Paddy und Maite – für eine Rückkehr sind ihre eigenen Karrieren zu schillernd.
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