„Sozialkreditsystem“

„Big Brother“ sieht selbt kleinste Sünden

Web
05.04.2018 12:29

Bei roter Ampel über die Straße gegangen? Trotz Rauchverbots eine Zigarette angezündet? Im Internet schlüpfrige Seiten besucht? Diese kleinen Sünden müssen sich die Bürger in China in Zukunft wohl mehrfach überlegen, immerhin steht ihr „Sozialkredit“ auf dem Spiel. In mehreren Städten testet China ein auf Punkten basierendes Bewertungsregister, das sämtliche Lebensbereiche umfasst. 2020 soll das „Sozialkreditsystem“ letztlich für alle 1,3 Milliarden Einwohner verpflichtend sein - nach offizieller Darstellung, um die Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung zu stärken. In der Realität könnte es dem Regime aber derart gelingen, die Bevölkerung lückenlos zu überwachen und zu konditionieren.

Die Informationen werden über Daten aus dem Internet gesammelt. Es kann beispielsweise analysiert werden, welche Inhalte man in den sozialen Medien postet. Zudem sammelt der Staat Finanzdaten und Informationen aus öffentlichen Datenbanken sowie von großen Online-Anbietern wie Amazon oder den Internetriesen Alibaba und Tencent. Es werden Einkäufe mit Kreditkarte oder Bezahl-Apps registriert, die in China weit verbreitet sind. Als weitere Datenquellen kommen Kranken- und Gerichtsakten in Frage. Oder die Inputs von Beobachtern, die das Verhalten der Menschen im öffentlichen Raum melden.

Darüber hinaus existiert ein System großflächig installierter Überwachungskameras. 170 Millionen davon gibt es bereits im ganzen Land. Bis 2020 sollen es 400 Millionen sein. Eine Gesichtserkennungssoftware soll es in Zukunft möglich machen, jeden abgelichteten Chinesen binnen drei Sekunden zu identifizieren. Das macht unter anderem eine Gesichtserkennungsbrille für Polizisten möglich, deren Fotos in einer Mega-Datenbank abgespeichert werden. Algorithmen sollen aus den derart gewonnenen Daten dann berechnen, wer nach Einschätzung der Partei ein „aufrichtiger und moralischer hochstehender Mensch“ ist. Über eine Smartphone-App kann der eigene Punktestand abgerufen werden. Allerdings haben auch Behörden, Banken und Arbeitgeber, Vermieter, Einkaufsplattformen, Reiseveranstalter und Fluggesellschaften Einsicht in die Bewertung.

(Bild: AFP)

Von „AAA“ bis „D“
Noch wird die Bürgerbewertung lediglich ausprobiert. Doch bereits 2020 könnte es den derzeitigen Plänen zufolge für jeden chinesischen Staatsbürger zur Pflicht werden, sich mit seiner Sozialausweisnummer dafür registrieren zu lassen. Für die meisten chinesischen Bürger ist es jetzt schon nicht mehr ungewöhnlich, dass ihr Nutzerverhalten im Internet bewertet wird. Wer sich „gut verhält“, also regimetreu ist oder einen gesunden Lebensstil vorweisen kann, dem werden auf dem persönlichen Sozialkredit-Konto Punkte gutgeschrieben.

Die höchstmögliche Beurteilung ist wie bei den Bewertungen internationaler Finanz-Ratingagenturen der „AAA“-Status. Wird dieser stabilisiert, winken Belohnungen wie eine günstigere Kranken- oder Sozialversicherung. Auch bei Beförderungen wird das Rating der Kandidaten zu Rate gezogen. „Schlechtes“ Verhalten wie regelmäßiger Alkoholkonsum, häufige Verkehrsvergehen, ein „Like“ unter einem kritischen Posting oder ein Streit in der Nachbarschaft ziehen einen Punkteabzug nach sich. Verschärfend kommt dazu, dass auch die Performance der Eltern, Verwandten oder des Freundeskreises in die Bewertung einbezogen wird. Niedrige Punktezahlen können wiederum bis zu einem gewissen Grad durch „gute Taten“ ausgebügelt werden, etwa durch Blutspenden. Der schlechteste Status ist „D“ und kann bis zum Verlust des Jobs führen. Oder das Verbot, ein Bahn- oder Flugticket zu lösen.

(Bild: APA/dpa)

Experte warnt vor Vorverurteilungen
„Big Brother is watching you“ scheint in China Realität zu sein. Klaus Mühlhahn, China-Experte der Freien Universität Berlin, warnt jedoch vor zu eiligen Vorverurteilungen seitens des Westens: „Bei diesem Sozialkreditsystem kann man nicht sagen, dass es so etwas bei uns überhaupt nicht gibt. Größtenteils ist das ein Kreditbewertungssystem.“ 
So verfüge etwa in Deutschland die Auskunftsdatei „Schufa“ über kreditrelevante Informationen zu 66,3 Millionen Personen und 4,3 Millionen Unternehmen. „In den USA gibt es die Credit Points. Da kriegt jemand Punkte und dann wird darüber entschieden, ob jemand einen Kredit bekommt oder nicht.“

Allerdings gebe es doch einen Unterschied zu diesen westlichen Modellen: „China macht das dann systematisch und sagt, wenn wir schon die Kreditwürdigkeit beurteilen, dann bauen wir das doch gleich aus und nehmen jede Art von Regelbruch, den wir dann da einbauen.“ Das gebe dann doch Anlass zur Sorge: „Das System hat den Charakter einer größeren Normierung des Verhaltens. Generell ist es so: China sieht sich in einer Welt, die von Umbrüchen gekennzeichnet ist. Daher versuchen sie, die Kontrolle der Gesellschaft zu verstärken und zu erhöhen. In diesem Kontext muss man auch das Sozialkreditsystem sehen.“

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