Sieg nicht mehr sicher
Erdogan im Wahl-Finish in die Zange genommen
Wahlkampf im Ausnahmezustand: 160.000 nach dem mysteriösen Putsch verhaftet plus 160.000 von ihren Jobs gefeuert, und die weltgrößte Zahl an Journalisten im Gefängnis. Das macht der Opposition in der Türkei Probleme. Doch sie zieht an einem Strang und bringt Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Bedrängnis. Man nennt es schon eine „kleine Revolution“.
Am Sonntag wählen die Türken Parlament und Präsidenten. Bei einer Wiederwahl würde er noch mehr Macht erhalten. Im Laufe der letzten zwei Jahre war aber eine gewisse Ermüdungs- und Abnutzungserscheinung des Regimes zu sehen, sodass heute ein Wahlsieg von Erdogan keineswegs mehr eine ausgemachte Sache ist. Die Opposition wittert trotz massiver Behinderung erstmals seit Jahren Morgenluft. Der Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei CHP, der Partei des Atatürk-Erbes, Muharrem Ince, kann Erdogan rhetorisch das Wasser reichen und begeistert Zuhörer mit seiner Schlagfertigkeit.
Liberaler Rivale als Versöhner der Nation
Nach fast schon 16 Jahren Erdogan steht Ince für einen Neuanfang. „Ein müder Mann kann die großen Probleme der Türkei nicht lösen“, punktet er bei seinen vielen Wahlkampfauftritten. Ince tritt als der große Versöhner auf. Er geht auf die Kurden zu und hat den inhaftierten charismatischen Parteichef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, demonstrativ im Gefängnis besucht. Mithilfe kurdischer Stimmen könnte Ince Erdogan am Sonntag in eine Stichwahl am 8. Juli zwingen. Spätestens in der Stichwahl würde Erdogan vermutlich gewinnen, doch eine zweite Wahlrunde könnte neue Dynamiken freisetzen. Erdogans Nimbus der Unschlagbarkeit wäre angekratzt. Für die Opposition wäre es also schon ein großer Erfolg, würde sie ihn in die Stichwahl zwingen.
Und womöglich sitzt Erdogan gar nicht mehr ganz so fest im Sattel, wie er selber stets glauben macht. Beim Verfassungsreferendum über sein Präsidialsystem im vergangenen Jahr holte er nur eine dünne Mehrheit, die noch dazu hochumstritten war: Die Opposition witterte Wahlbetrug. Die größten Städte des Landes stimmten mehrheitlich gegen die Verfassungsreform, die dem Präsidenten viel mehr Macht gibt und die mit den bevorstehenden Wahlen abgeschlossen wird. Schon bei der Präsidentenwahl 2014 hatte Erdogan die erste Runde nur knapp gewonnen. Diese Ergebnisse zeigen auch, wie tief Erdogan das Land gespalten hat: Etwa die Hälfte der Türken unterstützt ihn, oft bedingungslos. Die andere Hälfte lehnt ihn aus ganzem Herzen ab, dazwischen gibt es nichts. Ince kündigt an, diese Spaltung überwinden zu wollen.
Die Hüterin von Atatürks Frauenbefreiung
Während des - eingeschränkten - Wahlkampfes erwuchsen Erdogan also zwei Rivalen: Neben dem Kandidaten der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (Atatürk-Partei), Muharrem Ince, verschaffte sich die rechtsnationalistische Gründerin der Iyi-Partei („Die Guten“) und ehemalige erste und einzige Innenministerin, Meral Aksener (62), Gehör. Die „Eiserne Lady“ (Spitzname: „Wölfin“) dürfte Erdogan Stimmen aus dem rechtsnationalistischen Lager abjagen. Sie repräsentiert jenen Frauentyp aus Atatürks Zeiten, der sich nicht unter das Kopftuch zwängen lassen will. Sie stand sogar in der Frühzeit Erdogan nahe, als dieser noch europäisch tickte.
Allerdings ist Aksener keine gute Rednerin und frei von jeglichem Humor. Beifall brandet auf, wenn sie sich auf Atatürk beruft: Sie würde wieder die volle Trennung von Religion und Staat herstellen, aber Rücksicht auf die religiösen Gefühle nehmen. Ihr fehlen aber Stimmen der Kurden.
Der andere Herausforderer von Erdogan, Muharram Ince, tickt ganz eindeutig europäisch. Sein Programm: „Wir werden nicht darauf achten, ob Kopf oder nicht, ob Minirock oder nicht, ob Türke oder Kurde, und welcher Konfession.“ Ince gewann im Laufe des - eingeschränkten - Wahlkampfes an Statur und an Zustimmung. Das verunsicherte den Sultan, und er musste noch lauter brüllen. Die Republikanische Volkspartei hatte in den vergangenen Jahren eine traurige Figur gemacht: kraftlos und in Tradition verstaubt. Mit dem Kandidaten Ince (54) kann sie wieder die Massen begeistern. Zünglein an der Waage sind die Kurden. Sie stellen etwa 15 Prozent der Wähler. Ihre Partei, die HDP, müsste die anti-kurdische Sperrklausel von 10 (!) Prozent überwinden, um ins Parlament zu kommen.
Der Wahlausgang am Sonntag ist also offener, als es sich Erdogan bei Ausrufung der vorzeitigen Neuwahlen ausgedacht hatte. Der Sultan wirkt nach 15 turbulenten Jahren an der Macht merklich müde. Es fehlt der große Mobilisierungsfaktor, und so muss halt Sebastian Kurz für starke Sprüche herhalten.
Wie würde Erdogan auf eine Niederlage reagieren? Niemand glaubt, dass er sich freiwillig zurückzöge.
Kurt Seinitz, Kronen Zeitung
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