Nach dem tragischen Selbstmord von Linkin-Park-Sänger Chester Bennington setzte erst einmal Schockstarre ein, doch sein Bandkompagnon Mike Shinoda hat Trauer, Wut und Verzweiflung sehr schnell in seiner kreativen Ader kanalisiert. Nach einer ersten Drei-Song-EP im Jänner veröffentlichte er nun mit „Post Traumatic“ ein Soloalbum, das sich aber nicht ausschließlich um den tragischen Verlust seines Freundes dreht. Im Interview gab uns Shinoda tiefe Einblicke in sein Seelenleben - live bringt er die schweren Songs am 7. September auf das Open-Air-Gelände der Wiener Arena.
Am 20. Juli 2017 wurde Chester Bannington erhängt in seiner kalifornischen Villa gefunden. Der Linkin-Park-Sänger verlor schlussendlich den lebenslangen Kampf gegen seine psychischen Probleme und fand keinen anderen Ausweg mehr. Trauer und Schockstarre setzten nicht nur im Bandcamp, sondern weltweit ein. Wie keine zweite Band aus den Nullerjahren prägten das anfängliche Nu-Metal-Konglomerat mit seinen steten Stilveränderungen und wichtigen Botschaften die Jugend und das Aufwachsen einer ganzen Generation - und zwar weltweit. Auch Bandkollege Mike Shinoda brauchte einige Zeit, um über das traumatische Erlebnis hinwegzukommen. Er flüchtete sich in die Kreativität und begann Songs aufzunehmen, Videos zu drehen und zu malen. Knapp ein Jahr nach dem tragischen Vorfall veröffentlicht er mit „Post Traumatic“ nun sein erstes Soloalbum, das 16 Songs lang eine kongruente Story erzählt, sich aber nicht durchgehend auf Benningtons Selbstmord beruft. Wie es mit Linkin Park weitergeht, ist ungewiss - für Shinoda eröffnet sich aber gerade eine völlig neue Phase in seinem kreativen Berufsleben.
„Krone“: Mike, du hast ein knappes Jahr an diesem persönlichen, vielseitigen und sehr intensiven Album namens „Post Traumatic“ gearbeitet. Wie fühlt es sich an, es nun endlich in die Welt zu lassen?
Mike Shinoda: Es war wie eine Befreiung für mich, dass ich nun dieses Kapitel abschließen konnte. Ich will mir einfach ein neues Fundament aufbauen, auf dem ich stehen kann und habe gar keine großen Erwartungen mit diesem Werk. Ich will einfach wieder stabil in meinem Tun sein. Außerdem bin ich wieder offen für Veränderungen, für Dinge, die mich überraschen. An dem Album zu arbeiten war für mich wie eine Art Tagebuch, wo ich musikalisch alles notierte, was ich erlebte und was mich beschäftigte. Ich schrieb viele Songs und nahm sie noch am gleichen Tag auf, wodurch ich das Gefühl der Themen eins zu eins projizieren konnte. Wenn du unmittelbar jetzt deine Faust gegen eine Tür knallst, dann wirst du mir darüber eine andere Erfahrung schildern, als wenn dasselbe vor sechs Monaten passierte. Ich wollte eben den Moment einfangen. Das Album ist frisch, roh und unmittelbar. Mir war es wichtig, mein Seelenleben sofort und emotional zu vermitteln.
Du bringst diese Songs auf deiner Solotour auch bald auf die Bühne. Hast du nicht Angst davor, dass dich die Geister der Vergangenheit dadurch immer wieder einholen?
Nein, eigentlich nicht. Jetzt bin ich an dieser Sechsmonatsspanne angelangt, die ich dir vorher in der Metapher vermittelt habe. Sechs Monate später kann ich offen darüber reden. Manchmal kann ich sogar Humor einfließen lassen und manchmal merke ich dafür auch, dass ich das noch nicht überwunden habe. Es ist ganz verschieden. „Hold It Together“ ist ein Song, der sich darauf bezieht, wie temporär so gut wie alles in meinem Leben zusammenbrach. Das war so schlimm, dass es fast schon wieder komödiantisch war, weil es sich so realitätsfern anfühlte. Mir wurde erstmals gewahr, wie unglaublich unerträglich das Leben manchmal sein kann. Kurz nachdem Chester verstarb, gab es gleich fünf Waldbrände in Los Angeles. Das musst du dir mal vorstellen. Gleich fünf Feuer, die sie nicht in den Griff bekamen, die die Stadt in Atem hielten und Häuser zerstörten - direkt nach Chesters Tod. Das war der Punkt, wo ich mit meiner Frau redete und nicht mehr akzeptierte, dass das das reale Leben sein könne. „Hold It Together“ reflektiert einen dieser Momente, wo ich bereit war, darüber zu lachen. Speziell dieser Song war eine Erleichterung für mich.
Das Album ist chronologisch angeordnet. Es beginnt irrsinnig dunkel und wird dann immer heller und lebensbejahender. „Lift Off“ etwa ist ein Song, der den Eskapismus huldigt. War es dir wichtig, nicht ausschließlich Trauer und Schmerz zu besingen, sondern am Ende nach vorne zu schauen?
Natürlich, das war immens wichtig. Ich wollte aber auch nichts aussparen und den Fans zeigen, was ich im letzten Jahr alles erlebt und mitgemacht habe. Viele haben selbst ihre Probleme, manchmal sind sie sogar sehr ähnlich. Andere sind durch den Tod von Chester am Boden zerstört. Egal in welche Richtung auch immer - das Album sollte für all diese Menschen hilfreich sein.
Drei dieser 16 Songs auf dem Album hast du schon im Jänner als EP veröffentlicht und dabei erstmals Einblick in dein Seelenleben gegeben. Würdest du sagen, dass die Kreativität dir selbst Trost spendet und Hoffnung gibt?
Durchaus. Immer, wenn es mir nicht gut ging oder die Dinge kompliziert wurden, habe ich mich der Kunst zugewandt - in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Sie hilft mir, die Perspektiven in die richtige Linie zu rücken und meinen Geist zu beruhigen.
Das Album ist musikalisch sehr vielseitig ausgefallen. Es gibt Hip-Hop-Tracks, elektronische Nummern, Balladen und solche, die von einem Klavier getragen werden. War dir diese klangliche Vielfalt als musikalische Umsetzung für dieses Album wichtig?
Ich habe einfach geschrieben und nicht viel über ein Genre nachgedacht. Das Label und das Management brauchten natürlich ein Genre, um es online zu vermarkten, was ich natürlich beim Schreiben nie bedachte. (lacht) Jetzt firmiert es auf Spotify eben unter „Alternative“, weil man es irgendwie kategorisieren muss. Es könnte aber alles sein und so höre auch ich heute Musik - ohne Grenzen.
Mit Deftones-Sänger Chino Moreno oder Machine Gun Kelly und anderen hast du auch interessante Gäste auf dem Album. Wie kam es zu diesen Kooperationen?
Die meisten davon sind Freunde oder Leute, die ich gut kenne. Ich wollte die Songs nur in die Hände jener Leute legen, die genau wussten, was ich gerade durchmachte. Die Deftones haben vor einigen Jahren ihren Bassisten Chi verloren, wodurch er diesen Schmerz, den ich fühlte, sehr gut nachvollziehen konnte. Ich spielte damals auch bei der Tribute-Show für Chi und so fanden wir uns wieder. Mir war klar, dass sie genau wussten, worum es mir bei dem Album ging - und zwar nicht in der Form eines Touristen, sondern als jemand, der die Gefühlswelt mit mir teilte.
Was war dir am Erschaffen dieses Albums im Endeffekt am Wichtigsten?
Das weiß ich gar nicht. Meine Priorität lag dabei, so ehrlich wie möglich zu sein. Ich schrieb einige Songs, die wirklich gut klangen, aber wo ich mit den Texten nicht zufrieden war. Sie klangen manchmal wie Bullshit und ich hätte mich damit lächerlich gemacht. Ich hatte einige Texte, die nicht zusammenhängend waren und irgendwie keinen Sinn ergaben. Ich habe lange hinterfragt, warum das so ist und bin draufgekommen, dass es daran lag, dass ich meinen Kopf nicht freigeräumt hatte. Wenn du einen Song schreibst, wo du nicht einmal genau weißt, worüber du schreibst, dann musst du erst einmal das Thema reflektieren. Das lernte ich sehr schnell. „Promises I Can’t Keep“ war so ein Song, wo ich sehr lange am Refrain feilte. Du willst dich gut präsentieren, ehrlich sein, aber diverse Umstände ändern den Zugang zu dir selbst. Da musste ich immer wieder evaluieren.
Ich las ein sehr interessantes Buch namens „Option B“ der Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg. Mit „Lean It“ schrieb sie schon davor ein Buch aus der Sicht einer weiblichen Geschäftsfrau, die Geschlechtsgenossinnen Ratschläge gibt, wie man sich in dieser Welt wohlfühlt und erfolgreich ist. Einer ihrer Ratschläge war, dass man als erfolgreiche Geschäftsfrau zuhause die Hilfe des Ehemanns braucht, um die Familie zusammenzuhalten und Karriere und Privatleben zu balancieren. Das ist ein Teil einer guten und gesunden Beziehung und man sollte das priorisieren. Dann starb plötzlich ihr Mann und sie schrieb „Option B“. Dort entschuldigte sie sich für ihre alten Ratschläge, weil sie merkte, dass viele keinen unterstützenden Partner haben und es gar nicht allen möglich sei, nach diesen Ideen zu leben. Sie fühlte sich schuldig. Solche Gedanken hatte ich in veränderter Form selbst bei den Texten, weil ich den Leuten nichts mitgeben wollte, das nicht für jeden realistisch oder begreifbar wäre.
Verantwortung für andere ist ein guter Punkt. Du bist einer der Musiker, die mit Linkin Park ganze Generationen geprägt haben. Viele Kinder, Teenager oder auch Erwachsene schauen auf dich auf, hören dir genau zu und absorbieren deine Worte. Fühlst du dadurch die Verantwortung, textlich immer etwas Sinnvolles abzuliefern?
Ich gebe einfach mein Bestes. Als ich jünger war, war mir relativ egal, was ich so absonderte, aber ich glaube so geht es jedem in einem gewissen Alter. Als ich das erste Mal Menschen sah, die unsere Songtexte, Albumtitel oder Gesichter auf ihren Körpern tätowiert hatten wusste ich, dass ich nicht einfach nur mehr das singen könne, was mir so spontan durch den Kopf geht. Bevor ich einen Text schreibe oder einen Tweet abschicke, denke ich lieber doppelt nach. Ich weiß auch, dass ich nach Chesters Tod Dinge sagte, die nicht angebracht waren. Ich habe Tweets gelöscht wie jeder andere auch und daraus gelernt. Wir sind alle nur Menschen, aber ich nehme es sehr ernst, dass sich viele Menschen sehr um die Band kümmern und unsere Musik sie berührt. Ich nehme die Verantwortung, die ich habe, durchaus ernst.
Zerstört es in gewisser Weise deine Kreativität, wenn du im künstlerischen Prozess an die Verantwortung für die Menschen da draußen denken musst?
Ich bin mir bewusst genug, welchen Einfluss Musik auf mich selbst hat, wodurch ich immer genau darauf geachtet habe, meine Karriere so zu lenken, wie ich es gemacht habe. Mit diesem Wissen und den Erfahrungen, die ich machte, könnte ich zum Beispiel niemals ein Schock-Rapper werden. Ich könnte keine Rap-Version von Marilyn Manson oder Gwar sein. (lacht) Es wäre natürlich lustig, aber die Leute müssten das auch als lustig verstehen. Wenn das jemand ernst nehmen würde, dann wäre ich am Boden zerstört. Ich weiß, welche Kraft Wörter und Songs haben, denn jeder von uns hat Songs, die einen für ein Leben lang prägen. Als ich vor einigen Jahren nach Hause gefahren bin, habe ich im Radio Ushers „I Don’t Mind“ gehört, wo es grob um eine Stripperin geht und es ihm im Song egal ist, was sie tut, solange sie mit Geld nach Hause kommt. Ich will jetzt nicht Usher bashen, er ist mir egal, aber der Song war furchtbar, weil er moralisch einfach völlig wertlos ist. Ich musste mich für diesen Song fremdschämen. Das ist etwas, was genau definiert, was ich nicht machen möchte. Wie gesagt - ich kenne Usher nicht persönlich und glaube auch nicht, dass er ein furchtbarer Kerl ist nur, weil er einen so schlechten Song gemacht hat. (lacht)
Gab es Dinge, die du auf „Post Traumatic“ bewusst aussparen wolltest? Möglicherweise, weil es zu persönlich oder tiefgehend war?
Ich habe mir anfangs überhaupt keine Grenzen gesetzt, denn wäre ich später draufgekommen, dass etwas zu viel war, hätte ich es wegschneiden oder verändern können. Am Ende habe ich aber nichts ausgespart. Mir war das Gefühl wichtig, ein solches Sicherheitsnetz zu haben.
Hat Chesters Tod und all die Dinge, die seither passiert sind, deine eigene Perspektive auf das Leben verändert?
Ja, es ist aber sehr kompliziert. Ich habe sehr viele Dinge über die geistige Gesundheit gelernt, die mir nicht bewusst waren. Auch, wie man sich bemerkbar macht und ausdrückt, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Du würdest niemals Angst davor haben den Leuten zu erzählen, dass dir die Schulter oder der Rücken weh tun. Wenn du aber depressiv bist, dann hast du plötzlich eine Scheu davor, das kundzutun. Das liegt auch daran, dass du in unserer Kultur automatisch Angst hast, dass das deinen Job negativ beeinflussen könnte. Emotionen sind das Resultat deiner Umwelt und deines täglichen Lebens und wenn Dinge stressig werden oder schlimme Dinge passieren, dann musst du die Kraft haben aufzustehen, und das zu vermitteln. Auch wenn das privat ist und du der Meinung bist, dass das in der Arbeit nichts zu suchen hätte - das stimmt einfach nicht. Manchmal muss man sich auch zurücklehnen können oder den ärztlichen Rat befolgen und kürzertreten. Das ignoriert man leider zu oft und ich hoffe, dass psychische Probleme anerkannter und nicht so oft bloß abgetan werden.
Ist „Post Traumatic“ nun der Beginn einer Solokarriere oder nur ein einzelnes Kapitel in deiner Karriere, in der du eine wichtige Thematik für dich verarbeitet hast?
Es ist der Beginn eines neuen Karrierekapitels, aber ich habe keine Pläne. Ich weiß nicht, wohin mich das führt und es ist derzeit für mich selbst noch sehr kompliziert. Mit Linkin Park war jedes Album ein Teil einer Reihe. Jedes einzelne Album war anders als jedes andere, denn wir wollten uns niemals wiederholen. Die Livekonzerte waren wie unterschiedliche Kunstaufführungen, die eine bestimmte künstlerische Phase von uns reflektierten. „Post Traumatic“ ist ein weiteres Kapitel, dessen Fortgang ich nicht benennen kann. Ich grenze mich damit aber nicht auf die Musik ein. Man sieht das Material auch auf den Bühnen, in den Social-Media-Kanälen oder in den Videos. Auf Instagram habe ich völlig abgedrehte Zeichnungen, die ich selber nicht immer verstehe. Sie sind aber ein Teil meiner Kreativität.
Am 7. September kommst du mit den Songs nach Österreich. Wie wird sich dieses Konzert gestalten, was darf man sich davon erwarten?
Ich arbeite noch immer an den Details, aber ich werde viele neue Songs spielen und definitiv auch Nummern von Fort Minor und Linkin Park. „In The End“ werde ich nur mit dem Piano begleiten und das Publikum soll Chesters Part singen. Das ist ein wundervoller Tribut und ein besonderer Moment der Show. Die Show wird einfacher fließen als die Shows von Linkin Park. Es gibt hier nur mich, der Entscheidungen trifft. Wenn ich nach links gehe, dann tue ich das und muss auf nichts achten. Ich bin der Regisseur des Ganzen. Die Auftritte werden auch eine gewisse Schwere haben. Nicht im negativen Sinne, aber sie werden emotional sehr gewichtig sein. Die Fans werden eine besondere Erfahrung machen, aber es wird trotzdem nicht an einer guten Zeit mangeln.
Mit wem wirst du die Bühne teilen? Welche Musiker werden dich dabei begleiten?
Ich hätte gerne einen Multiinstrumentalisten und einen Schlagzeuger. Das ist noch nicht ganz fix, aber es wird niemand von Linkin Park dabei sein. Ich will die Fans nicht irritieren, denn es ist auf jeden Fall kein Linkin-Park-Konzert.
Live in Wien
Am 7. September spielt Mike Shinoda live am Open-Air-Gelände der Wiener Arena. Die Karten für dieses einmalige Konzerterlebnis gibt es unter www.musicticket.at.
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