Quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit machte KISS-Zunge Gene Simmons samt spielfreudiger Band Montagabend im Wiener Gasometer Halt, um die größten Hits und seltene Raritäten des Backkatalogs der legendären Hard Rocker zu zelebrieren. Das Ergebenis war ein Abend voller Spielfreude und Humor, aber auch durchzogen von technischen Unzulänglichkeiten und stimmlicher Bescheidenheit.
Männer im gesetzteren Alter werden oftmals etwas wunderlich. Diese einmal mehr, einmal weniger sympathische Finte der Evolutionstheorie ist längst kein Geheimnis mehr. Der eine kauft sich mit dem sauer verdienten Ersparten eine schnittige Corvette, der andere muss den vollgeräumten Keller plötzlich zum Zigarren-, Billard- und Flatscreen-TV-Männerraum umbauen. KISS-Mastermind Gene Simmons entdeckt, während er pfeilschnellen Schrittes dem 70er entgegenschreitet, seine Liebe zur Nahbarkeit. Nicht anders ist es erklärbar, dass „The Demon“ sich auf Solotour begibt, ohne einen gewohnt stattlichen Obolus dafür einzukassieren. Gut - für seine zehnstündige Monsterbox und musikalische Lebensretrospektive „The Vault“ lässt er sich für 50.000 Dollar auf einen Hausbesuch ein, doch im Zuge seiner Tour mit der Gene Simmons Band gibt es für wenige Glückliche sogar die Chance auf ein kostenloses Näherkommen samt semifreiwilligem Selfie.
Locker und nahbar
Die erste Möglichkeit dazu bekommt die Damenwelt bei „Do You Love Me“, einige Nummern später dürfen zwei Handvoll stattliche Mannsbilder mit Gene „I Love It Loud“ ins Mikrofon grölen. So mancher torkelt halbtrunken über die Bühnenbretter, andere checken todesnervös die Kamerafunktionen auf ihrem Smartphone und ein ganz besonders frivoler Anhänger drückt dem Multimillionär gar übermütig einen Kuss auf die Wange. Was für die einen der Moment ihres Lebens ist, zeichnet anderen ein Fragezeichen ins Gesicht. Warum tut sich Gene Simmons so etwas an? Direkt nach fünf bombastischen KISS-Shows in Spanien und Portugal flogen Paul Stanley und Co. ins warme L.A. zurück, während Gene sich mit Band für insgesamt sieben Termine von Tschechien über Österreich und Luxemburg bis hin nach Oberhausen kutschieren lässt.
Wie immer im Sparefrohmodus, denn Ryan Cook, einer der gleich drei Gitarristen seiner kompakten und fehlerfrei aufspielenden Nashville-Band Thee Rock’n’Roll Residency muss auch den Job des Tourmanagers ausführen. Die Ungezwungenheit eines Sologigs ist Simmons von Beginn an ins Gesicht geschrieben. „Meine Wiener Freunde, wie geht’s?“, posaunt er in die Menge, um mit „Deuce“, „Shout It Out Loud“ und dem ruppigen „Parasite“ wirkungsvoll das Set zu eröffnen. Nur schade, dass es kaum jemanden interessiert, denn mehr als 700, vielleicht 800 Nasen haben sich nicht im leeren Gasometer eingefunden. Die Galerie-Sitzplätze wurden kurzerhand an die Flanken vor der Bühne versetzt, in der Mitte tobt ein Stehplatz-Schlauch mit Die-Hard-Fans, die sich vor allem für die vorab angekündigten, selteneren Stücke ihr Geld aus der Tasche reißen ließen.
Dorffest mit Klassikern
Davon gibt es doch einige zu bejubeln. Allen voran das verkannte Rockjuwel „Charisma“ und „I“, ein fast schon vergessenes Kleinod des nur in wirklichen Fankreisen beliebten Konzeptwerkes „Music From The Elder“. Dass Gene nicht der begnadetste Sänger ist, ist ebenso wenig ein Geheimnis wie die Tatsache, dass sich auch bei einem derart exklusiven Stelldichein wie dem heutigen doch wieder die großen Songs als wahre Hits herauskristallisieren. „War Machine“, „Calling Dr. Love“ oder das famose „Cold Gin“ täuschen durch ihren Kultfaktor über den zumeist matschigen Sound und das kaum vorhandene Bühnenlicht hinweg. Doch wie unlängst in der Wiener Stadthalle bei Ringo Starr hat man auch bei Simmons‘ Stelldichein stets das bedrängende Gefühl, einer Dorffestveranstaltung beizuwohnen. Das liegt nicht nur an den ständig über die Bühne laufenden Menschen, sondern auch an Simmons‘ bescheidenen Stand-Up-Comedian-Qualitäten.
So palavert er gewohnt gekonnt auf Deutsch, schwärmt von „Palatschinka“ und Apfelstrudel mit Kaffee, fährt aber mit seinen Vergleichen geografisch oft ins Leere. Etwa bei der Frage, ob die Band so gut klinge wie die Toten Hosen oder die Ärzte. Oder bei seiner kurzen, aber effektiven Werbeansprache für seine „The Vault“-Box, auf der er unter anderem Kooperationen mit Bob Dylan, Van Halen oder Joe Perry, aber keine mit Nena hätte. Eine in die Länge gezogene Geschichte über eine gerissene Basssaite am Vorabend beim „Masters Of Rock“-Festival in Tschechien endet mit einer flotten Version des Rock’n’Roll-Klassikers „Long Tall Sally“. Dass Simmons den 85-jährigen Urheber Little Richard 92 Lebensjahre attestiert, muss man ebenso nonchalant aus dem Gedächtnis wischen, wie ein ins Leere führender Dialog über Frühstücksgepflogenheiten zwischen dem Frontmann und seiner Mannschaft. KISS-Unplugged (also ohne Schminke, Feuer, Effekte und Band) ist nicht frei von Pannen.
2019 mit KISS
Gähnende Leere herrscht auch im Außenbereich des Ovals. Der Meister der Vermarktung, der nicht nur Särge und Flipperautomaten, sondern sogar Luftgitarrensaiten gewinnbringend anzubringen weiß, hat sich für seinen mehrtägigen Solospaß durch Europa gar nicht erst die Mühe gemacht, Merchandise einzupacken. Dafür haben die zuvor spielenden Österreicher von The Weight nicht nur in diesem Bereich alles aufgefahren, was möglich war. Auch der Gig, der stark an die Led-Zeppelin-70er-Jahre gemahnenden Vorarlberger und Burgenländer, war mit seiner authentischen Liebe zu memorablen Riffs und sanft-progressiven Schlenkern über alle Maßen kurzweilig. Vielleicht klappt es ja das nächste Mal mit dem Amadeus Award - heuer gab es immerhin schon eine Nominierung. Gene Simmons hingegen kommt 2019 mit der Erfolgsmaschinerie KISS wieder zu uns. Wenn man seine Worte im aktuellen „Krone“-Interview für bare Münze nehmen darf, dann sogar nach Wien und Graz. Der Soloausflug wird hierzulande wohl ein einmaliger gewesen sein.
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