krone.at in Bosnien

„Ansturm auf EU-Grenze kommt noch vor dem Winter“

Ausland
21.09.2018 06:00

Wir sind in Velika Kladusa, in einem kleinen Ort in Bosnien und Herzegowina, direkt an der Grenze zu Kroatien. In einem Zeltlager harren hier derzeit mehrere Hundert Migranten aus - wie viele es genau sind, kann niemand sagen. Die Zahl ändert sich täglich, denn jeden Tag brechen einige von ihnen in Richtung EU-Grenze auf. Damit hat die kroatische Polizei aufgrund von Risikoanalysen schon länger gerechnet. Im nächsten Monat wird ein Ansturm auf die Tore der EU erwartet. Denn der Winter in Bosnien ist unerbittlich.

„The Game“ - das Spiel. So nennen die hier gestrandeten Migranten ihre Reise. Derzeit sind es in ganz Bosnien und Herzegowina nach offiziellen Schätzungen etwa viereinhalbtausend. Das Ziel des Spiels ist es, die Europäische Union zu erreichen, viele möchten nach Italien. Bis dorthin sind es einige illegale Grenzübertritte, zunächst jener nach Kroatien. Und die kroatische Polizei ist bestens vorbereitet.

Mit eiserner Faust
Die kroatische Polizei verzeichnet einen etwa 80-prozentigen Anstieg der Fälle versuchter illegaler Grenzüberschreitungen, erklärt Mijo Rapić, der Leiter der Polizeidienststelle Gvozd. Es sind 150 Prozent mehr Menschen als im Vorjahr, die es riskieren. Aufgrund diverser Risikoanalysen, die etwa auch den Grenzschutz der Nachbarländer in Betracht ziehen, hatte die kroatische Polizei Zeit, sich auf den verstärkten Druck vorzubereiten. Es steht ihnen ein Frontex-Flugzeug zur Grenzüberwachung zur Verfügung, von der EU erhalten sie finanzielle Fördermittel, zusätzliches Personal wird aus Regionen im Zentrum des Landes in die Grenzgebiete versandt.

Mijo Rapić ist kroatischer Polizist. Er rechnet in den nächsten Wochen mit einem Ansturm auf die kroatische Grenze. (Bild: krone.tv)
Mijo Rapić ist kroatischer Polizist. Er rechnet in den nächsten Wochen mit einem Ansturm auf die kroatische Grenze.
Frontex-Flugzeug zur Grenzüberwachung (Bild: twitter.com)
Frontex-Flugzeug zur Grenzüberwachung

Für das kroatische Innenministerium hat der Grenzschutz oberste Priorität. Das Land möchte dem Schengen-Raum beitreten. In der Praxis würden die Einsätze aber eher ruhig verlaufen, sagt Herr Rapić. „Wenn unsere Systeme jemanden in Bosnien erkennen, der versucht, die Grenze zu passieren, warnen wir die Person, dass sie sich der EU-Grenze sowie der kroatischen Grenze nähert, dass sie die Grenze nicht überschreiten darf, und fordern sie auf umzudrehen. In den meisten Fällen müssen wir die Menschen nicht einmal warnen. Wenn sie die Polizei sehen, drehen sie ohnehin um und gehen nach Bosnien und Herzegowina zurück.“ Selbstverständlich bestehe auch die Möglichkeit, an der Grenze um Asyl anzusuchen.

(Bild: krone.tv)

Gewalt-Vorwurf an kroatische Polizei
Die Geschichte, die in Bosnien in den Grenzgebieten erzählt wird, ist eine gänzlich andere - und immer dieselbe. Dass die kroatische Polizei unverhältnismäßig gewaltsam vorgeht, ist hier ein offenes Geheimnis, erzählt eine Mitarbeiterin einer internationalen Hilfsorganisation. Offiziell darf sie sich dazu aber nicht äußern. Die kroatische Polizei würde die Menschen aufgreifen, ihnen Geld, Mobiltelefon und Papiere wegnehmen und sie zusammenschlagen - mit Schlagstöcken, oft systematisch die Beine verletzend, um das Vorankommen zu erschweren. Beweise gibt es keine direkten. Zwar werden Fotos der Wunden gemacht und medizinische Befunde erstellt, wenn die Menschen einen Arzt aufsuchen. Aber die Daten auf den Mobiltelefonen sind weg.

Dieser Mann sagt aus, von kroatischen Polizeikräften geschlagen worden zu sein. (Bild: Pablo Herrerías Valls)
Dieser Mann sagt aus, von kroatischen Polizeikräften geschlagen worden zu sein.
Der kroatischen Polizei wird vorgeworfen, Mobiltelefone und damit Beweise für Polizeigewalt systematisch zu zerstören. (Bild: SOS Kladusa )
Der kroatischen Polizei wird vorgeworfen, Mobiltelefone und damit Beweise für Polizeigewalt systematisch zu zerstören.

Es sind nicht die ersten Anschuldigungen unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Exekutive in dem Land. Die kroatische Polizei war in den frühen Neunzigerjahren stark militarisiert, musste das Land im Jugoslawien-Krieg verteidigen. Das hat den Polizeiapparat nachhaltig geprägt. Die Vorfälle werden von den lokalen Hilfsorganisationen aufgenommen und dokumentiert, und es werden regelmäßig Berichte erstellt. Unter Helfern besteht der Verdacht, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern um systematische Gewalt handeln könnte.

Simon C. kommt aus Großbritannien. Er ist für den Informationsstand im Camp in Velika Kladuša zuständig. (Bild: krone.tv)
Simon C. kommt aus Großbritannien. Er ist für den Informationsstand im Camp in Velika Kladuša zuständig.

„Die slowenische Polizei übergibt die Migranten der kroatischen Polizei. Und die kroatische Polizei aus Rijeka, aus Karlovac, aus Zagreb, aus allen Ecken des Landes, fährt sie zu bestimmten Standorten an der Grenze, wo sie zusammengeschlagen werden. Wenn das nicht organisiert ist, weiß ich auch nicht“, meint Simon Campbell, einer der Helfer im Grenzgebiet. Das Rote Kreuz verweist an die Krankenhäuser im Ort, wo Verletzungen dokumentiert und erfasst werden. Seitens der kroatischen Polizei lautet der einzige Kommentar, die Exekutive würde sich an geltendes kroatisches und EU-Recht halten. 

Das Leben an der Grenze
Jene Menschen, die auf dieser Ebene des Spiels feststecken, harren also in Velika Kladuša aus, einem kleinen bosnischen Dorf nahe der kroatischen Grenze.

Plastikfetzen sollen die Bewohner des Camps vor dem Wetter schützen. (Bild: krone.tv)
Plastikfetzen sollen die Bewohner des Camps vor dem Wetter schützen.
(Bild: krone.tv)

Die Zahl der Bewohner ändert sich täglich. Maximal können hier im Camp 400 Menschen leben, dann wird der Raum aber schon sehr knapp. Improvisierte Duschen sind vorhanden, aber Warmwasser gibt es keines. Ein Generator produziert Strom. Das Geräusch ist so ohrenbetäubend, dass man seine eigene Stimme kaum hört. Schilder beim Informationsstand warnen vor Landminen und wilden Tieren im Grenzgebiet. Landminen sind hier vom Krieg noch einige übrig, was bei versuchten Übergängen tödlich enden kann.

Mehrsprachige Karten zeigen die Bereiche mit Landminen im Land. (Bild: krone.tv)
Mehrsprachige Karten zeigen die Bereiche mit Landminen im Land.

Trotz den schwierigen Bedingungen sind da Momente der Menschlichkeit. Ein kleiner, etwa dreijähriger, Bub rennt fröhlich durch die Wiese und murmelt auf Farsi vor sich hin. Ein Mädchen im rosa Kleid läuft in die Arme seiner Mutter. Die Helfer und die Bewohner des Camps scherzen miteinander, liefern sich einer Wasserschlacht. 

Im Camp gibt es nur provisorische Duschen mit kaltem Wasser. (Bild: krone.tv)
Im Camp gibt es nur provisorische Duschen mit kaltem Wasser.

Zu essen gibt es bei Latan. Latan heißt mit bürgerlichem Namen Asim Latić und ist einer jener Einheimischen, die sich noch gut an den Jugoslawien-Krieg erinnern können. Er musste damals selbst Hunger leiden. Und weil er weiß, was das bedeutet, liegt ihm sein Betrieb am Herzen. „Wenn Sie irgendjemanden hier im Dorf fragen, egal ob groß oder klein, wer Latan ist - alle werden mich kennen, und alle werden wissen, wo mein Restaurant ist“, erzählt er stolz in gebrochenem Deutsch.

Asim Latić musste im Jugoslawien-Krieg selbst hungern. Jetzt versorgt er Migranten. (Bild: krone.tv)
Asim Latić musste im Jugoslawien-Krieg selbst hungern. Jetzt versorgt er Migranten.

Drei Monate lang haben Latan und ein paar seiner Freunde ihr Vorhaben alleine finanziert, dann erhielt er Hilfe von der Bevölkerung. Auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) fördert den Betrieb nun. Doch seine früheren Kunden hat Latan verloren. Sie möchten sich mit den Migranten das Essgeschirr nicht teilen, erzählt er. 

Die einheimische Bevölkerung ist gespalten. Viele von ihnen waren einst selbst auf der Flucht. Die Gegend rund um Velika Kladuša hat im Jugoslawien-Krieg besonders blutige Zeiten gesehen. Das haben die Menschen hier nicht vergessen. Aber einige haben Angst, seit es im Rahmen von Auseinandersetzungen unter Migranten zu zwei Mordfällen gekommen ist, sie wollen nicht mehr helfen. Vor Ort sind vor allem kleinere Organisationen wie „No Name Kitchen“ oder „SOS Kladuša“ aktiv. Sie kümmern sich um die Camps und die Versorgung mit Essen und Hygieneartikeln. Illegale Grenzübertritte unterstützen sie nicht, betonen die Helfer. Die Menschen, die hier helfen, sind teilweise bereits jahrelang in der humanitären Hilfe aktiv. So auch Petra aus Tirol, die sich bereits seit 2016 engagiert.

Petra S. aus Tirol (Bild: krone.tv)
Petra S. aus Tirol

Insel der Seligen
Familien haben Glück: Sie bekommen ein Dach über den Kopf. Die IOM holt Familien mit Kleinkindern und schwangere Frauen aus dem ganzen Land und organisiert Transporte in ein altes Hotel im Una-Sana Kanton in Bosnien, das Hotel Sedra. Früher war hier ein Luxusressort, aber das Gebäude ist verkommen und nun nicht mehr winterfest. Für alle Familien reicht der Platz nicht, heißt es aus Velika Kladusa. Das Hotel Sedra kann maximal 400 Menschen beherbegen, derzeit leben dort etwa 200. 

Das Hotel Sedra in Bosnien war vor Jahren ein Luxusressort. (Bild: krone.tv)
Das Hotel Sedra in Bosnien war vor Jahren ein Luxusressort.

Das Hotel wird von der IOM und vom Roten Kreuz betreut, finanzielle Unterstützung kommt von der Europäischen Kommission. Im Vergleich zum Camp in Velika Kladuša sind die Bedingungen hier paradiesisch. Es gibt Zimmer zu sechs Betten, einen Speisesaal und einen Garten. Am Kühlschrank hängen Zeichnungen der Kinder. Im Gemeinschaftsraum läuft gerade der Film „Die Eisprinzessin“ in englischer Sprache. Dutzende Knopfaugen starren gebannt auf die Leinwand.

Die medizinische Versorgung ist hier gesichert. Außerdem wurde eine Außenstelle der bosnischen Behörden eingerichtet, wo die Familien direkt um Asyl ansuchen können. Das tun auch etwa 30 Prozent der Bewohner, erklärt eine Helferin im Hotel. 

Die Bewohner vor Ort bringen Kleider für die Migranten ins Hotel Sedra. (Bild: krone.tv)
Die Bewohner vor Ort bringen Kleider für die Migranten ins Hotel Sedra.

Kein einziger Asylantrag gewährt
Nicht alle flüchten vor Krieg, das sehen auch die Helfer hier. Viele fliehen vor Armut, aus Ländern wie Algerien, Marokko, Tunesien oder auch aus Westafrika. Die meisten Menschen wollen weiter, denn in Bosnien gibt es nichts zu holen - auch nicht für die Einheimischen. Einige suchen aber doch in Bosnien und Herzegowina um Asyl an. Im Jahr 2018 sind bisher insgesamt 13.184 Menschen irregulär ins Land eingereist. 11.709 dieser Menschen äußerten den Wunsch, um Asyl anzusuchen, allerdings wurden nur etwa 1000 formelle Ansuchen eingereicht.

Der Zugang zum Asylprozess ist schwierig. Die staatlichen Strukturen dafür gibt es erst seit dem Krieg, sie sind unvollendet und nicht dafür gerüstet, so viele Ansuchen zu behandeln. Ein Teilproblem ist, dass das Ansuchen ohne Meldeadresse in Bosnien und Herzegowina schwieriger wird. Jene Migranten, die in staatlichen Unterkünften untergebracht sind, haben es also deutlich einfacher. Seit Dezember 2017 gibt es in Sarajevo ein Informationszentrum des Flüchtlingskommissariats der Vereinigten Nationen (UNHCR), das den Menschen den Zugang zum Asylprozess erleichtern soll. Allerdings dauert eine Entscheidung oft ein halbes Jahr, und bis dahin sind die Menschen weitergezogen, erklärt Neven Crvenković vom UNHCR in Sarajevo. Von den bisher gestellten Asylansuchen hat Bosnien und Herzegowina kein einziges gewährt. Anerkannter Flüchtling ist hier niemand. Einer Person wurde subsidiärer Schutz gewährt.

Der Winter kommt
Seit Juli laufen im ganzen Land die Vorbereitungen auf den Winter. Das Hotel Sedra versucht, das Heizsystem zum Laufen zu bringen. Die Hilfsorganisationen in Velika Kladuša bunkern Ressourcen, so weit es möglich ist. Im Winter ist ein Weiterkommen undenkbar: Am Grenzgebiet ist Wald, hier sind Landminen und wilde Tiere, es kühlt auf minus 40 Grad ab. Sowohl die bosnische als auch die kroatische Seite erwarten in den nächsten Wochen einen Ansturm auf die Grenze. Die kroatische Polizei ist vorbereitet. Auf bosnischer Seite befürchten die Helfer eine humanitäre Katastrophe. Denn in diesem Spiel haben die Spieler nur ein einziges Leben.

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