Diesen Sonntag läuft das Such- und Rettungsschiff „Aquarius“ Richtung Libyen aus. An Bord: die Grazer Hebamme Nina Egger (32). Mit Conny Bischofberger spricht die Seenotretterin über das Sterben im Mittelmeer, Vorwürfe der Schlepperei und darüber, was sie im Innersten antreibt.
Freitagmorgen im Hafen von Marseille. Die „Aquarius“ ist startbereit, es müssen nur noch ein paar Reparaturarbeiten fertiggestellt werden. Am Sonntag läuft das Such- und Rettungsschiff unter der Flagge von Panama Richtung Libyen aus. Die Steirerin Nina Egger ist Teil der internationalen Crew. Die Hebamme war im August schon einmal in der sogenannten Search and Rescue Zone, einige Kilometer vor der libyschen Küste, in internationalen Gewässern. 141 Migranten rettete die „Aquarius“ damals (siehe Video unten) und brachte sie nach Malta. Als wir telefonieren, beraten die EU-Innenminister in Wien gerade mit Vertretern nordafrikanischer Länder über eine bessere Kooperation im Bereich Migration und Grenzschutz.
„Krone“: Frau Egger, alle kennen die Bilder von den Menschen aus Afrika, die auf Schlauchbooten im Meer treiben. Die einen sehen darin eine Verpflichtung zu helfen, für andere sind sie ein Symbol für das verbrecherische Schleppergeschäft. Können Sie diese Diskrepanz nachvollziehen?
Nina Egger: Ich bin Medizinerin und meine einzige Intention ist zu helfen. Ich weiß, dass sich viele Leute fragen, warum die Flüchtlinge so ein Risiko überhaupt eingehen. Die Zustände auf den Schlauchbooten sind wirklich lebensgefährlich. Aber wer einmal in Libyen ist, hat keine andere Chance mehr. Die Zustände dort sind katastrophal. Es ist keine Entscheidung, die diese Menschen leichtfertig treffen. Die sagen nicht: „Ach, versuchen wir es mal über die Mittelmeerroute.“ Sondern das ist wirklich der letzte Ausweg. Und ich denke mir oft: Wie verzweifelt muss man sein, sein eigenes Leben und auch das Leben seines Kindes aufs Spiel zu setzen?
Sie sind Hebamme. Wie viele schwangere Frauen waren beim letzten Einsatz auf Ihrem Schiff?
Zwei. Insgesamt waren von den 141 Geretteten 44 Frauen und fünf Kinder. Das jüngste war zehn Monate alt. Wir hatten auch 67 Minderjährige an Bord. Als Hebamme bin ich für alle Frauen und Kinder, die auf dem Schiff sind, zuständig. Sie alle sind in einem sogenannten Shelter-Raum untergebracht, mit mehr Rückzugsmöglichkeiten als die Männer sie haben. Dabei arbeite ich mit zwei Krankenschwestern und einem Arzt zusammen.
Wo sind die Väter dieser Kinder?
Das ist unterschiedlich. Ein Mann wurde in Libyen festgehalten, eine Familie hat den Vater verloren, weil er getötet wurde, der Ehemann einer Marokkanerin war bereits in Spanien. Wenn man beginnt, mit diesen Frauen zu sprechen, dann hören Sie Dinge, die so klingen, als wären sie nicht von dieser Welt. Wer würde glauben, dass es 2018 Versteigerungen von Menschen gibt, Sklaverei, Gewalt, Vergewaltigungen? In Libyen werden Menschen tage-, wochen-, monatelang festgehalten, ausgebeutet, gefoltert. Ich war schon bei vielen Einsätzen und habe viele schiache Geschichten gehört, aber Libyen stellt alles in den Schatten.
In welchem Zustand sind die Menschen, wenn Sie von der Aquarius gerettet werden?
Vor allem sind sie verängstigt, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Sie sind meist seit vielen Tagen auf See, in der prallen Sonne, meistens ohne Wasser und ohne Essen, zusammengepfercht auf einem sehr, sehr kleinen Boot. Sie haben keine Chance mehr weiterzukommen, weil entweder das Benzin ausgegangen ist oder ihnen der Motor abgenommen wurde. Sie haben keine Navigation, sie wissen nicht, wo sie sind. Sie haben unglaubliche Sonnenbrände, sind dehydriert und in sehr schlechter medizinischer Verfassung. Wenn sie das Schiff auf sich zukommen sehen, werden sie panisch aus Angst, von der libyischen Küstenwache zurückgebracht zu werden.
Was sagen Sie den Menschen, wenn sie an Bord kommen?
Wir sagen, wer wir sind und was wir machen. Wir versprechen ihnen aber nicht, dass wir sie nach Europa bringen werden, denn das wissen wir selbst nicht. Die „Lifeline“ irrte ja wochenlang herum und durfte nirgends anlegen. Dann sind sie erstmal einfach unglaublich erleichtert, dass sie diese Bootsfahrt überlebt haben. Sie weinen sehr viel, manche ziehen sich zurück und wollen eigentlich gar nicht darüber sprechen, was ihnen passiert ist. Anderen wiederum ist es wichtig, dass sie mit uns reden können. Dafür haben wir Dolmetscher an Bord.
Wie verständigen Sie sich mit den Flüchtlingen?
Die meisten von uns sprechen Französisch und Englisch, und wir haben mehrere Leute an Bord, die arabisch sprechen. Zwischendurch verständigen wir uns auch mit Händen und Füßen. (lacht) Es ist schön, zu sehen, wie schnell auf dem Schiff ein Zusammenhalt entsteht, wie Kinder miteinander spielen, wie Menschen sich aneinander anlehnen, wie human sie miteinander umgehen, auch wenn die Menschheit davor mit ihnen nicht so umgegangen ist.
Welche Geschichte hat Sie am meisten berührt?
Ein Mädchen aus Somalia - der Großteil der Leute kommt aus Somalia und Eritrea - wurde genitalverstümmelt und danach vergewaltigt. Das war herzzerreißend und wirklich ganz, ganz schlimm anzuhören. Danach wurde sie von ihrer Familie verstoßen, weil sie unwürdig war zu heiraten. Sie hatte keinen anderen Ausweg als nach Libyen zu gehen und dort bestieg sie so ein Boot, wissend, dass sie dabei auch sterben hätte können. Ich denke oft an dieses Mädchen, das in Malta ein Asylverfahren bekommen hat. Es ist für mich immer emotional, Menschen von Bord gehen zu lassen, weil danach mein Einfluss endet. Ich kann nichts mehr für sie tun.
Was sagen Sie zum Vorwurf, dass Hilfsorganisationen durch diese Seenotrettungen den Menschenhandel unterstützen?
Ich finde ihn ganz schrecklich, vor allem weil er nicht stimmt. Diese Route gab es schon sehr lange und auch als Italien aufgehört hat, diese Menschen vor dem Ertrinken zu retten, sind trotzdem Boote gekommen und es sind Hunderte Menschen gestorben. Die NGO-Schiffe versuchen nur, diese Lücke zu füllen. Unser Schiff ist das letzte, das noch im zentralen Mittelmeer arbeitet. Aber auch wenn wir nicht da wären: Das hindert die Menschen nicht, Libyen zu verlassen.
Aber sie müssen dafür bezahlen …
Teilweise ja, teilweise nein, man hört beides. Ich habe auch Geschichten gehört, wo Menschen jahrelang ausgebeutet wurden und dann hat man ihnen gesagt: „Raus aufs Meer, wir brauchen dich nicht mehr. Wir sind fertig mit dir.“
Viele fragen sich, warum afrikanische Länder diese Leute nicht aufnehmen?
Ja, aber es ist ein Trugschluss, dass Europa alle Flüchtlinge der Welt aufnimmt. Ganz im Gegenteil. 85 Prozent der Migration geht in Nachbarländer. Ich habe Anfang des Jahres in Bangladesch gearbeitet, da sind in kürzester Zeit 600.000 Menschen von Myanmar nach Bangladesch geflohen. Der Teil, der es nach Europa schafft, ist sehr gering. Für mich ist es Panikmache, wenn dieser Eindruck vermittelt wird.
Am Sonntag laufen Sie Richtung libysche Küste aus. Haben Sie nicht Angst, dass Sie nirgends mehr anlegen können?
Natürlich bereitet uns das Sorge. Wir nehmen zwar größere Mengen an Essen, Wasser und Medikamenten mit, aber wir sind natürlich nicht in der Lage, Menschen für eine längere Zeit zu versorgen. Aber letztlich sind wir nur dafür verantwortlich, ihr Überleben und die medizinische Versorgung zu sichern. Wo wir danach hinkommen, entscheiden die maritimen Behörden.
Könnten Sie auch gezwungen werden, die Flüchtlinge nach Libyen zurückzubringen?
Die Aquarius wird nie jemanden nach Libyen zurückbringen. Laut internationalem Recht ist eine Rettung nur an einem sicheren Ort abgeschlossen. Libyen ist kein sicherer Ort. Als Libyen noch eine funktionierende Regierung hatte, kamen viele afrikanische Menschen, um Arbeit zu finden, weil das gutbezahlte Arbeit war. Aber dann ist das Land ins völlige Chaos gestürzt.
Wie klingt die Forderung der Politik, man müsse die illegale Migration stoppen, für Sie?
Es würde bedeuten, dass man Menschen, die vor Armut, Krieg, Gewalt, Vergewaltigung, weiblicher Genitalverstümmelung, aus ihren Ländern geflohen sind, ausgerechnet in Libyen festhält. Aus politischer Sicht ist es vielleicht logisch, die Mittelmeer-Route zu schließen, aber aus humaner Sicht ist es das nicht. Menschen dort festzuhalten, wo sie nicht als Menschen behandelt werden, ist für mich ein Verbrechen.
Was ist Ihre Hoffnung für den bevorstehenden Einsatz?
Nachdem die Lage in Tripolis momentan aus den Fugen gerät und wir das letzte Rettungsschiff sind, hoffe ich, dass wir in dieser Zone noch Leute retten können. Das ist kein Freifahrschein nach Europa, sondern diese Leute werden von uns in einen sicheren Hafen gebracht und ihre Asylverfahren werden eingeleitet. Natürlich können sie auch negativ ausgehen.
Warum tun Sie das?
Ich möchte, dass keine Menschen mehr im Mittelmeer sterben müssen. Ich möchte dabei sein, wenn diese Menschen gerettet und würdevoll behandelt werden. Es ist nicht mein Recht zu entscheiden, wohin diese Menschen gehen und wie sie in Zukunft leben dürfen. Das ist Aufgabe der Politik.
Ihr Wunsch an sie?
Dass die EU eine gemeinsame Lösung findet, wie man diesen Menschen helfen kann. Aber ich habe auch einen Wunsch an die Bürger. Denkt mal ein bisschen nach, warum diese Menschen ihre Heimat verlassen. Lasst euch nicht einreden, dass alle Migranten der Welt sich nur nach Österreich auf den Weg machen, um uns die Arbeitsplätze streitig zu machen. Denkt daran, wie geborgen und geschützt und in welchem Wohlstand unsere Kinder aufwachsen und wie glücklich diese Menschen auf dem Schiff sind, wenn sie nur Wasser haben und etwas zu essen.
Was werden Sie Ihren eigenen Kindern einmal erzählen?
Viele, viele Geschichten. Aber vor allem, dass ihre Mama stolz ist, ein Teammitglied von „Ärzte ohne Grenzen“ und ihren Einsätzen gewesen zu sein. Damals, 2018, als Menschen im Mittelmeer ertrunken sind.
Steirerin auf Mittelmeer-Route
Geboren am 29. April 1986 in Graz. Ausbildung zur Hebamme, Jobs im Landeskrankenhaus Leoben und an der Universitätsklinik Graz. Bei „Ärzte ohne Grenzen“ seit 2015. Einsätze in der Zentralafrikanischen Republik (2015), in der Demokratischen Republik Kongo (2016), in Haiti (2016/2017) und in Bangladesch (2018). Seit dem Sommer ist die Steirerin Mitglied der Crew des Such- und Rettungsschiffes „Aquarius“, das „Ärzte ohne Grenzen“ gemeinsam mit „SOS Mediterranée“ betreibt. Insgesamt kamen dieses Jahr 46.500 Menschen über das Mittelmeer (Frankreich, Italien und Spanien) in Europa an. 1500 sind auf der Überfahrt ertrunken.
Conny Bischofberger, Kronen Zeitung
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