Nordiren warnen:
„Vereinigtes Königreich könnte zerbrechen“
Trotz des verkündeten Durchbruchs bei den Brexit-Verhandlungen wird es noch ein harter Kampf für die britische Premierministerin Theresa May, um nach der „technischen Einigung“ von Unterhändlern auch eine „politische Einigung“ in ihrem Kabinett und im Parlament durchzubringen. Denn wenige Stunden nach der Meldung über „weißen Rauch“ aus London gab es auch schon die ersten Querschüsse - aber nicht nur aus den Reihen der Opposition, sondern auch aus konservativen Kreisen. Die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) - jene konservative Partei, die die Partei Mays unterstützt - sprach von einer „Demütigung“ durch Brüssel. Man werde diesem Deal „niemals zustimmen“, meinte DUP-Hardliner Sammy Wilson. May kündigte für Mittwochabend ein kurzes Statement nach der Kabinettssitzung an - eine Pressekonferenz mit einer Erklärung zum Entwurf wollte sie nicht geben.
Parteichefin Arlene Foster äußerte sich zwar ein bisschen zurückhaltender und sprach davon, dass der Einigungstext „offenbar darauf hinausläuft“, dass Nordirland weiterhin an die EU-Regeln gebunden bliebe, um eine harte Grenze zu Irland zu vermeiden. Sie warnte aber vor einer Spaltung des Vereinigten Königreichs, sollte ein Teil der Union weiterhin an EU-Regeln gebunden bleiben. Fraktionschef Jeffrey Donaldson äußerte die Befürchtung, dass nach einem solchen Deal bald auch die Schotten wieder Lust bekämen, sich vom Rest des Königreichs loszureißen.
Schottische Regierungsschefin: „Verheerend für unsere Region“
Tatsächlich bezeichnete die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon die bisher durchgesickerten Informationen zur Einigung als „verheerend“ für ihre Region. „Das wäre die schlechteste aller möglichen Welten für Schottland“, sagte sie der BBC mit Blick auf den geplanten Sonderstatus für Nordirland. Schon allein die Tatsache, dass Schottland den EU-Binnenmarkt verlassen müsse, sei „schlimm genug“. Anschließend würden aber die Schotten mit den Nordiren, die faktisch weiterhin dem EU-Handelsraum angehören würden, um Investitionen und Jobs konkurrieren.
Der Chef der Sozialdemokraten, Jeremy Corbyn, will sich den Text genau ansehen und erst dann entscheiden, ob die Labour Party diesem zustimmt oder nicht. Allerdings zeigte er sich Mittwochfrüh äußerst skeptisch: „Angesichts der bisher chaotischen Vorgangsweise der Regierung gehe ich von keinem guten Deal für unser Land aus.“
Da auch einige Minister in Mays Kabinett „große Vorbehalte“ geäußert haben, halten britische Medien Rücktritte für nicht ausgeschlossen. Die Ressortchefs wurden am Dienstagabend einzeln zum Amtssitz der Regierungschefin gebeten und durften einen kurzen Blick in den ausverhandelten Text werfen. Die Kameras der versammelten Journalistenschar fingen anschließend lauter Minister ein, die Downing Street 10 mit betretener Miene verließen. Mays größte Widersacher in ihrer eigenen Partei schäumten vor Wut: Ex-Außenminister Boris Johnson und der einflussreiche Parlamentarier Jacob Rees-Mogg warfen May vor, sich Brüssel unterworfen zu haben. Überall im Londoner Regierungsviertel seien die weißen Fahnen der Kapitulation gehisst worden, sagte der erzkonservative Rees-Mogg.
May: „Es wird kein zweites Referendum geben“
Trotz des scharfen Gegenwindes bekräftigte die Premierministerin ihr Nein zu einem zweiten Referendum. Dieses Szenario war in der Vergangenheit auch von einigen EU-Partnern angedacht worden. „Wir werden den Brexit erfüllen und Großbritannien wird die EU am 29. März 2019 verlassen“, sagte die Regierungschefin im Londoner Unterhaus. Zu den Befürchtungen der nordirischen DUP meinte May, der Brexit-Deal werde zu keiner faktischen Loslösung der Provinz vom Rest des Vereinigten Königreiches führen. Es werde sich auf jeden Fall um eine zeitlich befristete Lösung handeln.
So werde durch das Abkommen der freie Personenverkehr zwischen der EU und Großbritannien beendet und die Jobs der Briten gesichert, sagte sie. Zur Frage des künftigen Status Nordirlands sagte sie, jede Zwischenlösung müsse zeitlich begrenzt sein. Damit versuchte sie, Befürchtungen der die Regierung in London stützenden Unionisten zu zerstreuen, der Brexit-Deal könnte zu einer faktischen Loslösung der Provinz vom Rest des Vereinigten Königreichs nach dem Ende der Übergangsperiode im Jahr 2020 führen.
Brüssel hat „No Deal“-Notfallpläne präsentiert
Die Verhandlungen mit Großbritannien über den EU-Austritt im März 2019 waren in den vergangenen Monaten ins Stocken geraten. Eine Einigung muss spätestens im Dezember stehen, um die Ratifizierung durch die Parlamente auf beiden Seiten rechtzeitig vor dem Brexit-Datum zu ermöglichen. Für den Fall eines Scheiterns der Brexit-Verhandlungen hatte die EU-Kommission am Dienstag einen Notfallplan verabschiedet. Er enthält „Notfallmaßnahmen in vorrangigen Bereichen“ wie dem Luftverkehr oder bei Aufenthalts- und Visafragen, wie die EU-Behörde mitteilte. Der Notfallplan soll laut EU-Kommission auch Gebiete wie Finanzdienstleistungen, Hygiene- und Pflanzenvorschriften, die Übermittlung personenbezogener Daten sowie die Klimapolitik umfassen. Noch spricht in Brüssel niemand von einem Deal.
Parallel zu den Kabinettsberatungen in London werden sich die Botschafter der verbleibenden 27 EU-Staaten über das mehr als 400-seitige Einigungsdokument austauschen. Sollte das britische Kabinett am Mittwoch den Text der Verhandler billigen, könnte ein EU-Sondergipfel am 25. November in Brüssel auf Schiene gebracht werden, hieß es in Ratskreisen in Brüssel.
Demonstranten versammelten sich nahe dem Regierungssitz
Während das Kabinett über den Deal diskutierte, protestierten Gegner wie Befürworter des Brexits nahe dem Regierungssitz in London. Rund hundert Demonstranten versammelten sich, um ihren Unmut über den Kompromiss mit Brüssel kundzutun - sie forderten einen harten Brexit. Auf der anderen Straßenseite machten EU-freundliche Demonstranten ihrem Ärger über den geplanten Austritt ihres Landes aus der EU Luft.
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