Am 21. Dezember wäre Kurt Waldheim 100 Jahre alt geworden. Sein Enkelsohn hat sich auf die Spuren des Großvaters gemacht. Conny Bischofberger traf den Gedenkdiener Gabriel Karas (18) in New York.
An der New Yorker Third Avenue, ein paar Blocks von der UNO entfernt, residiert Österreichs ständige Vertretung bei den Vereinten Nationen. Gabriel Karas wartet schon zehn Minuten früher vor dem Wolkenkratzer. Unter seinem schwarzen Wintermantel trägt er einen grauen Anzug, dazu ein weißes Hemd ohne Krawatte. Er sieht nicht aus wie 18 - ernsthafter irgendwie und kompetenter.
Im 31. Stock geben die gläsernen Büros einen 360-Grad-Blick auf die Skyline von Manhattan frei. Dort erwartet ihn das Team rund um den Spitzendiplomaten Jan Kickert schon - auch Kurt Waldheim war in den späten SechzigerjJahren, bevor er UNO-Generalsekretär wurde, hier Botschafter.
Karas hat eine schwarze Mappe mit Unterlagen zum Interview mitgebracht, die er auf den Tisch legt und bedächtig aufschlägt. Seine vorwissenschaftliche, durchaus kritische Arbeit über die Waldheim-Affäre dient ihm als Diskussionsgrundlage. Untermalt wird unser Gespräch mit den Sirenen der Einsatzfahrzeuge, die von der 46. Straße heraufdringen, dem „Sound of New York“.
„Krone“: Herr Karas, auf der Fahrt hierher habe ich dem Taxifahrer erzählt, dass ich Kurt Waldheims Enkelsohn treffen und interviewen werde. Er meinte: „Wasn’t he a Nazi?“ - „War er nicht ein Nazi?“ Was macht das mit Ihnen?
Gabriel Karas: In erster Linie tut es weh. Aber es zeigt auch, wie sehr sich das Image meines Großvaters verfestigt hat, wie viel eigentlich noch aufzuarbeiten wäre. Dass er heute, nach so langer Zeit, als „Nazi“ tituliert wird, das verletzt. Weil er das nicht war. Kurt Waldheim hat Fehler gemacht, aber er war kein Mitläufer oder gar Mittäter eines verbrecherischen Regimes.
Wollen Sie mit Ihrer vorwissenschaftlichen Arbeit ein Bild zurechtrücken?
Nein. Ich möchte eine andere Sicht der Dinge zeigen, einen guten Überblick über die Affäre liefern. Jeder kann sich dann immer noch seine eigene Meinung bilden: Wie Kurt Waldheim reagiert hat, was er damals gemacht hat. Aber die Fakten sollten bitte berücksichtigt werden. Es muss klar sein, dass man ihm Unrecht getan hat. Das haben alle Interviewpartner eingeräumt, selbst Ottilie Matysek, die bezeugt hat, dass Fred Sinowatz damals vor dem SPÖ-Landesparteivorstand erklärt hatte, man werde Waldheims „braune Vergangenheit“ thematisieren. Sinowatz wurde in weiterer Folge deshalb sogar wegen falscher Zeugenaussage verurteilt.
Fakt ist, dass Kurt Waldheim Wehrmachtsoffizier und SA-Mitglied auf dem Balkan und in Saloniki war und trotzdem österreichischer Bundespräsident wurde.
Dazu gibt es die schöne Geschichte einer Schulklasse, die über die Kriegsvergangenheit meines Großvaters diskutiert hat. Plötzlich zeigte ein Schüler auf und fragte: Ja aber warum ist Waldheim damals nicht zum Zivildienst gegangen? Da hat eine Generation über die andere geurteilt und ausgeblendet, dass man damals keine Wahl hatte. Es gab keinen Zivildienst, es gab nur den Krieg. Zum Vorwurf der Mitwisserschaft: Dafür gibt es keinerlei Beweise. Es gibt aber eidesstattliche Erklärungen von Zimmergenossen und Vorgesetzten, die gesagt haben, sie hätten nichts von Deportationen gewusst. Mein Großvater war damals 21 und wurde für etwas zur Verantwortung gezogen, in das er nicht involviert war.
Warum hat Waldheim sich später so schlecht verteidigt und Dinge gesagt wie „Ich habe nur meine Pflicht getan“?
Ich glaube, weil er zutiefst verletzt war. Er war jahrelang an der Spitze der UNO, davor Österreichs ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen, hat jahrelang als Außenminister für das Friedensprojekt gekämpft und kommt dann zurück nach Österreich. „Der Mann, dem die Welt vertraut.“ Dann kommt plötzlich der Vorwurf, man sei an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen, habe ein nationalsozialistisches Denken, ich glaube, das kann kein Mensch verkraften, egal ob er eine diplomatische Ausbildung hat oder nicht. Das ist in erster Linie meine Erklärung und dann gibt es weitere. Aber die Verletztheit stand sicher im Vordergrund. Daraus resultiert auch der nicht sehr kluge Satz „Ich habe nur meine Pflicht getan.“
Sein größter Fehler?
Ich zitiere ihn selbst, aus seinem letzten Wort. Sein größter Fehler war, „unter dem äußeren Druck monströser Beschuldigungen, die mit seinem Leben und mit seinem Denken nichts zu tun hatten, viel zu spät zu den NS-Verbrechen umfassend und unmissverständlich Stellung zu nehmen“. Der Vorwurf, er hätte das in seiner Autobiografie tun müssen, ist besonders perfid. Denn sein Buch über die Zeit als UN-Generalsekretär war keine Biografie.
War die „Jetzt erst Recht“-Kampagne auch ein Fehler?
Auf jeden Fall. Aber es war ja nicht so, dass das Waldheims Idee war. Da wollte die ÖVP einfach noch ihren Kopf retten und die Wahl gewinnen.
Was war eigentlich Ihr Kernmotiv, sich mit diesem Thema so eingehend zu beschäftigen?
Ich war 16, als immer mehr Fragen aufgekommen sind. In der Schule wurde ich oft mit dem Thema konfrontiert. Da wollte ich mit Fakten argumentieren können. Ich denke eigentlich sehr faktenorientiert. Ich finde, diese Debatte sollte anhand von Fakten und nicht anhand von Emotionen geführt werden.
Inwiefern haben Ihre Eltern - der Vater Politiker, die Mutter Juristin und Waldheim-Tochter - Ihren Entschluss beeinflusst?
Ich habe meinen Vater gefragt, ob er das für eine gute Idee hält. Und ich habe meine Großmutter am Attersee angerufen. Sie meinte: „Du weißt, worauf du dich da einlässt?“ Ich habe gesagt: „Ja.“ Meine Mutter habe ich aus emotionalen Gründen außen vor gelassen. Sie ist ja hier in New York aufgewachsen, 18 Jahre lang.
Ihre Großmutter ist 2017 gestorben. Konnte sie die Arbeit noch lesen?
Sie ist im Februar gestorben, und im Februar ist auch meine Arbeit fertig geworden. Also: nein. Aber ich hoffe, sie wäre stolz und zufrieden mit dem Ergebnis. Nicht, weil ihr der Inhalt passt, sondern weil er faktisch gut aufgearbeitet ist. Ich glaube, sie würde nicht alles unterschreiben, auch meine Mutter nicht. Aber sie wäre froh, dass auch einmal eine andere Sicht der Dinge vorliegt.
Wie objektiv kann ein Enkel denn sein und waren Sie kritisch genug?
Wenn es um den Großvater geht, ist es schwierig. Ich habe mir Mühe gegeben, den Staatsmann, den Diplomaten Kurt Waldheim zu beleuchten. Ich dachte, ich hätte auch kritische Geister für meine Interviews ausgewählt und war überrascht, dass beispielsweise Ottilie Matysek und Peter Michael Lingens sich nicht kritischer geäußert haben.
Klafft eine große Lücke zwischen dem Großvater und der öffentlichen Person Kurt Waldheim?
In meiner Wahrnehmung schon. Ich finde, in der öffentlichen Wahrnehmung ist von dem, was er den Großteil seines Lebens geleistet hat, nicht viel übrig geblieben. Vom UNO-Generalsekretär, vom Außenminister und Bundespräsidenten. Das finde ich schade, weil er sicher einer der größten österreichischen Diplomaten war. Vielleicht kann ich zumindest bei ein paar Leuten diese schwerwiegenden und haltlosen Vorwürfe - Nazi, Kriegsverbrecher - entkräften. Meine Intention dabei war: Wer Waldheim etwas unterstellt, der muss es auch nachweisen können.
Glauben Sie, dass Kinder ein unsichtbares Erbe weitertragen und dass das bei Ihnen die Rehabilitierung des Großvaters ist?
Eigentlich nicht, obwohl meine Familie natürlich unter der Situation sehr gelitten hat.
Wie ist es, Waldheims Enkel zu sein?
Ich war noch nicht einmal sieben, als er gestorben ist. Ich kannte auch seine liebevollen, fürsorglichen Seiten. Ich bin gerne sein Enkel, ich würde nicht sagen, dass es eine Bürde ist, die ich zu tragen habe.
Haben Sie Ruth Beckermanns Film „Waldheims Walzer“ gesehen?
Mittlerweile viermal. Mich stört die Bezeichnung „Dokumentarfilm“, dafür müsste er mehrere Sichtweisen aufzeichnen. Hier werden alte Sequenzen einer dezidierten Waldheim-Gegnerin gespielt, ohne Berücksichtigung neuer Fakten. So unter dem Motto: Ich habe 1986 Material gesammelt, und das verkaufe ich 2018. Aber dazwischen sind ein paar Jahre vergangen, es gab Waldheims Rede, sein letztes Wort, es gab die abschließenden Aussagen von Heinz Fischer, die Historikerkommission. Der Film beginnt mit Waldheims bloßen Händen und endet mit einer Stelle, wo er sich das Hemd zurechtzupft. Ich weiß wirklich nicht, was das mit den grundlegenden Problemen der Affäre Waldheim zu tun haben sollte.
Der Film ist preisgekrönt und wird vielleicht sogar für den „Oscar“ nominiert.
Das stört mich noch mehr. Weil es ein einseitiger Film ist, der bewusst ein negatives Bild von Waldheim zeichnet.
Kann er als Lehrstück für eine rechtspopulistische Gegenwart dienen?
Das halte ich für absurd. Ich finde vieles, was derzeit in Österreich passiert, nicht gut, aber eine Assoziation zur Affäre Waldheim sehe ich nicht.
Am 21. Dezember wäre Kurt Waldheim 100 geworden. Was glauben Sie, was sein größter Wunsch gewesen wäre?
Mit Sicherheit die Rehabilitierung seiner Person, auch wenn das ein Wunsch bleiben wird. Wenn sich die Vorwürfe bis zu den New Yorker Taxifahrern herumgesprochen haben, sieht es schlecht aus. Er steht ja auch bis heute auf der Watchlist.
Wird er jemals von der Watchlist runterkommen?
Meinen Großvater von der „Watchlist“ zu nehmen wäre ein schönes Zeichen der Versöhnung. Wünschenswert, aber wohl kaum realistisch. Theoretisch wäre es möglich, aber es gibt einfach kein Interesse daran. Es wäre aber anständig gewesen, wenn die ÖVP und SPÖ es zumindest versucht hätte.
Wir sitzen hier bei der Ständigen Vertretung Österreichs bei der UNO. Haben Sie gegenüber den USA keine Ressentiments?
Gar keine. Auch meine Mutter nicht, sie kommt noch immer gerne nach Amerika.
„100 Jahre Republik“ spiegeln sich auch in Kurt Waldheims Leben. Wurde dieses Leben genügend gewürdigt?
Es wurden zwar beim Festakt Aussagen von ihm eingespielt, aber andererseits steht im „Haus der Geschichte“ ein Holzpferd. Ich habe ein Problem damit, weil das nicht etwa ein Symbol für Vergangenheitsbewältigung ist, sondern wieder ein gezielter persönlicher Angriff auf seine Person. Motto: Er war nicht am Balkan, nur sein Pferd. Also eine Anspielung auf Gedächtnislücken. Dabei hat die Waldheim-Affäre ja dazu geführt, dass Österreich sich seiner Vergangenheit bewusst wurde. Kurt Waldheim hat selbst dazu beigetragen. Er sagte schon 1988, dass es Österreicher gab, die Opfer waren, und andere, die Täter waren. Das wurde 1991 ausschließlich Franz Vranitzky zugeschrieben. Auch das wäre geschichtlich zu korrigieren.
Wenn Sie in Ihre Kindheit zurückgehen, was ist die früheste Erinnerung an den Großvater?
Ich sehe die schöne Wohnung am Lobkowitzplatz. Dort durfte ich „Bob der Baumeister“ schauen und auch öfter bei den Großeltern übernachten. Ich habe meinem Großvater auch gerne bei der Arbeit zugeschaut. Damals war mir natürlich noch nicht klar, was er für eine Weltkarriere hinter sich hatte.
Könnte es sein, dass Ihr Gedenkdienst hier an der Ostküste der USA unbewusst eine Art Wiedergutmachung ist?
Nein. Weder habe ich etwas wiedergutzumachen noch mein Großvater. Ich wollte statt dem Militärdienst einfach etwas G‘scheites machen und bin auf den Auslandsdienst gestoßen. Die Arbeit beim American Jewish Committee, dieser tägliche Austausch mit Diplomaten, ist höchst spannend, eine Mischung aus Interessensvertretung und globaler politischer Arbeit.
Apropos politische Arbeit: Ihr Vater Othmar Karas kritisiert des Öfteren die ÖVP und Kanzler Sebastian Kurz. Ist er noch bei der richtigen Partei?
Ja, denn das sind seine Wurzeln. Ich halte es für wichtig, innerhalb der Partei einen Diskurs und einen Dialog zu führen. Oder wollen wir keine Kritik mehr?
Ihr Vater kann es sich leisten.
Jeder Politiker kann sich das leisten. Ich und mein Vater haben im übrigen sehr ähnliche Wertevorstellungen. Es regt uns beide auf, wie leichtfertig heute polarisiert und diffamiert wird, wie sehr Ausländerfeindlichkeit geschürt wird, mit welchen Bildern und Videos.
Trägt die ÖVP nicht Mitverantwortung?
Sie hat diese Dinge des Öfteren kritisiert. Und auch mein Vater wird, wenn ihn etwas stört, das weiterhin sagen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Zur Person:
Geboren als Sohn des Europapolitikers Othmar Karas und der Juristin und Künstlerin Christa Karas-Waldheim am 14.7.2000 in Wien. Als Maturaarbeit am Gymnasium „Maria Regina“ in Wien-Döbling wählte er das Thema „Die Waldheim-Affäre - Recht und Unrecht“. Seit Oktober 2018 leistet Karas, der in Österreich eine Kommunikationsagentur gegründet hat, Gedenkdienst beim American Jewish Committee (AJC) in New York. Kurt Waldheim starb 2007, seine Frau zehn Jahre später. Es gibt noch drei weitere Enkelkinder: Christian, Stephan und Philippe.
Conny Bischofberger, Kronen Zeitung
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