Das große Interview

Ist Österreich ärmer geworden, Herr Pfarrer?

Steiermark
23.12.2018 06:00

Den Heiligen Abend feiert er mit Obdachlosen, Drogenkranken und Flüchtlingen: Mit der „Krone“ spricht „Vinzipfarrer“ Wolfgang Pucher über den Sinn von Weihnachten und die verdammte Pflicht zu helfen.

Es ist schön warm in seinem Büro in der Pfarre St. Vinzenz in Graz-Eggenberg. Auf dem Schreibtisch liegen Tannenzweige und Moos, auf einem Lebkuchenherz steht „Du bist einfach super!“ Über all den Mappen, Büchern, Alben und Bildern hängt ein Holzkreuz, den Tisch schmückt ein Adventkranz mit vanillegelben Kerzen. „Als Kind habe ich viel gefroren, deshalb mag ich es heute warm“, erzählt der 79-Jährige und reibt sich wohlig die Hände. Wie aufs Stichwort klopft es an der Tür, und seine Sekretärin bringt ein paar selbstgestrickte Socken, eines von vielen Geschenken für den „Pfarrer der Armen“, wie er in Graz auch genannt wird. Im zu Ende gehenden Jahr feiert Pucher sein 55-jähriges Priesterjubiläum.

(Bild: Christian Jauschowetz)

„Krone“: Am Montag ist es geschafft. Da feiern wir den Heiligen Abend. Waren Sie auch im Weihnachtsstress?
Wolfgang Pucher: Sicher. Weil viele Menschen draufgekommen sind, dass sie niemanden haben, dass sie sich keine Geschenke für ihre Kinder leisten können, dass sie Hilfe brauchen. Alle Leiden und Nöte werden zu Weihnachten dringender und schmerzlicher. Als letzten Rettungsanker gibt es immer nur einen, und das ist Gott.

Was ist für Sie der Sinn von Weihnachten?
Dass wir alle Christkinder füreinander sind, Menschen, die sich gegenseitig zum Geschenk machen. Jene, die mehr haben, teilen mit denen, die wenig oder nichts haben. Wo man selber stärker ist und mehr Kraft hat, muss man für die Schwächeren da sein. Das ist unsere verdammte Pflicht.

(Bild: Christian Jauschowetz)

Das Bild von der Krippe mit dem Jesukind, von Maria und Josef auf Herbergsuche: Ist es aktueller denn je?
Natürlich. Hier im Keller des Pfarrhofs zum Beispiel leben Roma-Familien. Das sind 40 Armutsmigranten, 15 davon Kinder. Und im „VinziDorf“ sind es 40 Männer, alles gescheiterte Menschen, die dort in Frieden miteinander leben. Viele von ihnen waren schon im Gefängnis, aber sie haben mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen, sie trinken heute weniger als früher, sie schauen aufeinander und pflegen sich, sodass man ihnen nicht mehr ansehen würde, dass sie eigentlich Sandler sind. Wenn diese Menschen zu mir kommen und mich „Vater“ nennen - auf steirisch „Voda“ -, dann denke ich mir jedes Mal: Mein Gott, wie hast du dir das verdient.

Sie werden „Pfarrer der Armen“ genannt. Wie definieren Sie Armut?
Jeder Mensch, der leidet, ist arm. Da gibt es zunächst die existenzbedrohende Armut, wenn Menschen hungern, frieren, keine Wohnung haben. Viel schlimmer aber ist die zunehmende psychische Armut, die Armut der inneren Ausweglosigkeit. Wie es in der Schubertmesse heißt: Wohin soll ich mich wendenwenn Gram und Schmerz mich drücken?

(Bild: Christian Jauschowetz)

Ist Österreich ärmer geworden?
Ja. Die Brosamen der Reichen genügen nicht mehr, um die Armut zu lindern. Stattdessen werden die Sozialausgaben gekürzt. Das nährt aber eher die Grundhaltung vieler Menschen, die mit Argwohn auf „die anderen“ schauen, es schürt den Neid und es bringt letztlich den sozialen Zusammenhalt in Gefahr.

Aber die Regierung wollte mit dieser Maßnahme auch ein Zeichen gegen Sozialmissbrauch setzen.
Es gibt die berechtigte Sorge, dass das Sozialsystem auch missbraucht wird. Das war immer so und wird immer so sein. Aber so massenweise, wie man es darstellt, geschieht es nicht, das ist billige Propaganda.

(Bild: Christian Jauschowetz)

Ihr beispielloses soziales Netz, das Sie mit den Vinzi-Einrichtungen geschaffen haben, wurde vielfach ausgezeichnet - Sie sind aber auch umstritten. Wie gehen Sie damit um?
 Als ich mich der „Heßgasse“ angenommen habe, die lange Zeit Projektionsfläche für alles Böse in Graz war und „Delogiertensiedlung“ genannt wurde, gab es viel Gegenwind. Aber da muss man durch. Denn im Grunde genommen halten uns Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, den Spiegel vors Gesicht. Die größte Sünde ist die Sünde der Distanz. Wir haben ein Fest in Graz unter dem Motto „Setz di her do neben mir“. Da treffen die Menschen einander, da sitzt dann plötzlich ein Bettler neben dir. Und es zeigt sich: Sobald ich die Nähe erlebe, lösen sich Vorurteile auf.

Freuen Sie sich auf Weihnachten?
 Sehr. Vor allem auf den Moment, den ich gar nicht ohne Rührung erzählen kann. Der Höhepunkt des Heiligen Abends ist eigentlich, wenn im „VinziDorf“, einem Platz, den es kein zweites Mal gibt, alle diese Männer gemeinsam „Stille Nacht“ singen (wischt sich ein paar Tränen aus dem Gesicht). Ich rufe dann jedes Mal in Wien beim „VinziBett“ an und schalte das Telefon auf Lautsprecher. Dann singen wir alle gemeinsam, in Wien und in Graz, da bekommt „Frohe Weihnachten“ dann einen Sinn. Später feiere ich noch eine Kindermesse, besuche Drogenabhängige und um 22 Uhr ist die Mette in der Kirche.

(Bild: Christian Jauschowetz)

Das Wiener „VinziBett“ soll geschlossen werden, warum?
Darüber bin ich tieftraurig. Wir müssen das Haus verlassen. Mietvertrag gekündigt, das war‘s. Ich appelliere an das Herz der Österreicherinnen und Österreicher, die vielleicht ein Haus haben, in das wir ziehen könnten. Das wäre für mich das schönste Weihnachtsgeschenk.

Welche Erinnerungen werden wach, wenn Sie an Weihnachten in Ihrer Kindheit denken?
Ich sehe unser kleines Haus vor mir, mit nur zwei Räumen. Im Winter war es so kalt, dass wir als Kinder oft halbe Tage im Bett der Großmutter verbracht haben, wo wir einander wärmen konnten. Wir sind mit vielen Tieren aufgewachsen - eine Katze, Hasen, Hühner, Gänse, Bienen und ein kleines Ferkel hat in einer Kiste im Haus gelebt. Eine Ziege hat uns Milch gegeben. Weihnachten war der einzige Tag, an dem auch im Schlafzimmer geheizt wurde. Unsere Mutter schmückte den Baum mit Würfelzucker, den sie in Zuckerlpapier einwickelte, jedes Jahr dieselben, essen durften wir sie nicht. (Pfarrer Pucher steht auf und holt ein altes Fotoalbum aus einem Regal. Die Bilder zeigen ihn, seine Geschwister und die vaterlose Familie am Heiligen Abend. „Mich erkennt man an den großen Ohren!“ Sein Vater wurde im Krieg von Partisanen erschossen.) 

(Bild: Christian Jauschowetz (Repro))
(Bild: Christian Jauschowetz)

Hatten Sie später nie Zweifel, ob der Priesterberuf der richtige für Sie ist?
Doch. Ich war mir meines Glaubens nicht immer so sicher. Als ich 40 war, habe ich mich nachts im Pyjama in die Kirche geschlichen und mich vor dem Altar auf den Boden gelegt vor Verzweiflung. „,Wenn du willst, dann tu etwas‘, habe ich dem Herrgott gesagt. ,Aber ich kann nicht mehr.‘“ Heute ist mein Glaube gefestigter, ich zweifle nicht mehr.

Sie werden nächstes Jahr 80. Denken Sie manchmal an den Tod?
 Seit zehn Jahren ständig. Da lag ich mit einer Pilzpneumonie in der Intensivstation und wäre fast gestorben. Meinen Nachruf hatten sie damals schon vorbereitet. Das mulmige Gefühl wird seither immer stärker.

(Bild: Christian Jauschowetz)

Welches?
Vor allem ist da die Frage, ob ich mich wirklich restlos in den Dienst der Armen gestellt habe. Denn jeder, der hilft, hat ja auch noch andere Motive, die einem oft nicht bewusst sind. Leicht sterben ja nur die ganz Heiligen und die ganz Oberflächlichen. Zu beiden zähle ich mich nicht. Jedenfalls werde ich im „VinziDorf“ begraben sein, so viel steht fest. Mitten unter den Gescheiterten, eigentlich letztlich auch als Gescheiterter.

Was soll man einmal über Sie sagen?
Diese Frage hat mir noch niemand gestellt (denkt nach). Dass ich als Mensch und als Priester immer bemüht war, dem Ideal eines Armendieners zu entsprechen. Weil ich dieses Ideal aber nur teilweise erfüllen konnte, hoffe ich auf die Barmherzigkeit Gottes.

(Bild: Christian Jauschowetz)

Sein soziales Netz ist beispielslos
 Geboren am 31. März 1939 in Hausmannstätten bei Graz als Sohn einer Schneiderin und eines Schuhmachers, zwei Geschwister. Aufgewachsen ist er in Zerlach/Kirchbach in der Steiermark. Als Wolfgang vier ist, fällt sein Vater im Krieg. Die Mutter zieht mit einer kleinen Waisenrente die drei Kinder groß. Das Heimathaus der Puchers hatte nur zwei Zimmer und keinen elektrischen Strom. 1949 kommt er als Zehnjähriger ins bischöfliche Knabeninternat nach Graz, drei Jahre später wechselt er mangels Lernerfolgen ans öffentliche Gymnasium. 1958 tritt er den Lazaristen bei, Priesterweihe 1963. Seit 1973 ist der vielfach ausgezeichnete Seelsorger Pfarrer der Grazer Pfarre St. Vinzenz und Gründer der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg, aus der 39 VinziWerke, u.a. VinziBus und VinziDorf, entstanden.

Conny Bischofberger, Kronen Zeitung

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