Zerfallserscheinungen

Kolumne: „Verlust der Mitte“

Ausland
13.01.2019 09:08

Im 21. Jahrhundert müssten die Eliten und die politischen Repräsentanten endlich wieder lernen, mit ihrem Volk zusammenzuleben. Gelassen stellt der Franzose Christophe Guilluy diese rebellische Behauptung in den Raum. Hat er recht? Oder ist er einer jener Hysteriker, denen der Zukunftsoptimist Steven Pinker zur Last legt, unliebsame Nachrichten zu übertreiben?

Zu welcher Gruppe, geschätzte Leserschaft, gehören wir: zu jener, die trotzig meint, wir, das Volk, würden von unseren Oberen geringgeschätzt. Oder zu den „beschissenen Idioten“, die alles madig machen? (Pinker, wörtlich).

Kampf gegen die Wirklichkeit
Ich lauschte vor vielen Jahren in Alpbach einer Diskussion zwischen Karl Popper und Konrad Lorenz. Popper erläuterte seine Idee der offenen Gesellschaft, wo, im Gegensatz zu gesinnungsmäßig festgelegten, geschlossenen Cliquen, ein lebhafter Meinungsaustausch erwünscht ist. Wie stellt sich die Lage heute dar? Jene, die sich aus Leibeskräften auf die offene Gesellschaft berufen, finden sich fast ausschließlich aufseiten der sogenannten Eliten. Diese, als geistige Oberschicht von eigenen Gnaden, sind im Besitz der Deutungshoheit und dazu erwählt, die Masse des Volkes zum Heil zu führen: Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Politiker. Sie leben in großen Städten, stehen nicht unter unmittelbarem Konkurrenzdruck in der Privatwirtschaft und werden in der einen oder anderen Form vom Staat versorgt. Trittbrettfahrer sind reiche Mäzene, die ihre Mittäterschaft in der Elite zu höchst eigennützigen Zwecken handhaben. Entgegen dem popperschen Traum von einer offenen Debatte schirmt man sich vom Rest der Bevölkerung und deren Interessen ab und verweigert überheblich eine echte Aussprache. Dazu sind viele Mittel recht: absichtliches Totschweigen abweichender Meinungen, Verächtlichmachen anderer Auffassungen bis hin zur glatten Lüge und dreisten Falschmeldung. Die angeblich offene, in Wirklichkeit aber geschlossene Gesellschaft ist zum Feigenblatt eines Klüngels erblüht, der sich im Besitz der allein selig machenden Wahrheit dünkt und sie in ihrem Reservat eifersüchtig verteidigt.

Diese „Gelbwesten“ in Toulouse haben keinerlei Berührungsängste. (Bild: APA/AFP/PASCAL PAVANI)
Diese „Gelbwesten“ in Toulouse haben keinerlei Berührungsängste.

Die da draußen aber wollen nicht mehr fügsam sein. Jenseits der unsichtbaren Wand findet ein Kampf von 90% der Bürger mit der Wirklichkeit statt: Internationalisierung, Rationalisierung, spekulative Finanzwirtschaft, sinkende Masseneinkommen, Negativzinsen für Sparer und Pensionsvorsorge, Transfer von Hunderten Milliarden an Banken, die sich bei der Finanzierung des Südens der EU verspekuliert hatten.

Angst vor den Folgen der Digitalisierung
Seit der Jahrtausendwende haben Spar- und Rentenguthaben fast 15% ihres Werts verloren, anstatt Zinsen abzuwerfen. Dazu kommt die Angst vor den möglichen Folgen der Digitalisierung. Millionen von Zuzüglern aus kulturfernen Gegenden harren vor den Türen und verlangen ihr wirkliches oder angemaßtes Recht.

(Bild: Yakobchuk Olena/stock.adobe.com)

Neuankömmlinge wandern nicht in die Reservate der Eliten. Diese bunkern sich in ihren Wohnvierteln, Schulen und Karrieren ein, während sie das Ideal der offenen Gesellschaft propagieren. Dort wohnen, abgeschirmt, die Fahnenträger der Elite, emanzipierte Neosozialisten samt Kindern in Privatschulen, bestens zusatzversichert. In den südlichen und westlichen Staaten der EU befindet sich die ehemals wohlhabende Mittelschicht in Auflösung. Ein Teil steigt in das lohnabhängige Proletariat des Populus ab, nur wenigen ist der Aufstieg in die Oberschicht vergönnt. Während sich alle Welt um die Integration von Zuwanderern abmüht, löst sich das eigene Volk in unterschiedliche Stammesverbände auf. Die akademisch Gebildeten schließen sich der Oberschicht an. Sie führen einen Kulturkampf um die öffentliche Moral, ihre Waffen sind die Faschismus- und Rassismuskeule und das Stigma des Fremdenhasses.

Florierender Mittelstand
Im Norden und in Zentraleuropa hingegen floriert der Mittelstand. Er schafft mehr neue Arbeitsplätze als die Industrie. So wiederholt sich im Großen, was im Kleinen abläuft: Der Kontinent spaltet sich zusehends in Verlierer und Gewinner. Dass dies auf die Dauer nicht nur friedlich abläuft, zeigt die Geschichte der Revolutionen. Die Sansculotten, die „Hosenlosen“, machten 1792 gemeinsame Sache mit den Jakobinern und stießen die Aristokratie vom Thron. Wie aus dem Nichts formierten sich die Volksmassen und setzen einer jahrhundertealten Herrschaft ein Ende. Dieses Ereignis steckte ganz Europa an. Ist es gewagt, das, was in Frankreich in den letzten Wochen geschah, mit der Französischen Revolution zu vergleichen - gar anzunehmen, es sei nur ein Vorbeben dessen gewesen, was Europa bevorsteht? Inmitten all des Aufruhrs um den Populismus sei festgehalten, dass Populus dasselbe aussagt wie Demos: das Volk. Was als Demos geschätzt wird, wird als Populus verachtet. Davon leitet sich das altfranzösische poble - Diener, einfacher Mensch, ab, was später zu peuple, Volk, wurde. Mit dem eingedeutschten Wort „Pöbel“ wird ein Mangel an Kultur, Intelligenz, Stil, Feingefühl oder „Sinn für Höheres“ unterstellt - eben die heutigen „tumben Deppen“ vom Lande, wie ich, der ehemalige 4. Ofenhelfer im Stahlwerk. Erst mithilfe engagierter Intellektueller konnte sich die Revolution geistig einrichten. Montesquieu, Rousseau, Diderot und d’Alembert lieferten die Fundamente der ursprünglich auf Gewalt gebauten Volksherrschaft.

Fehlender intellektueller Unterbau
Dieser intellektuelle Unterbau fehlt den Vorkämpfern der 2. Revolution. Solange niemand sich getraut, mutig die unsichtbare Grenze zu den Eliten mit der Waffe des Geistes zu überspringen, werden die Gelbwesten aller Nationen immer wieder erlahmen.

(Bild: YouTube.com, AFP, krone.at-Grafik)

Mit jenen dünkelhaften Böcken, die ehemals zu Gärtnern gewählt wurden, ließen sich die Risse in der Gesellschaft nicht kitten. Man sieht die chaotische Flucht ins Extrem in Frankreich, England und Italien. Erleichtert hingegen möge man die moderate Hinwendung der hiesigen Regierung zum Populus begrüßen. Sie erspart uns das, was im Süden abgeht. Jene, die dies reflexartig verdammen, sind Blockierer auf dem Weg zu einem gedeihlichen Zusammen zwischen Elite und Volk. Ein intellektueller Unterbau wäre hilfreich.

Angesichts der Lebenslüge der Anhänger einer vollständigen Integration aller Europäer kommt mir nebenher jener bizarre Typ in den Sinn, der mit einem Fuß in einem Eiskübel, mit dem anderen in kochendem Wasser stand und zwischen den Zähnen murmelte: „Im Durchschnitt ist’s ganz angenehm“

Klaus Woltron, Kronen Zeitung

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