Die große Asyl-Serie
Afghanen: „Die mit Geld fahren nach Europa“
In der neuen Asyl-Serie spricht krone.at vor Ort in Afghanistan mit Afghanen über Fluchtgründe, die Sicherheitslage im Land und Kulturunterschiede. Waseeq Surkhrodi (26) entschloss sich, in Afghanistan zu bleiben und Karriere zu machen. Bacht Kamal (39) ist siebenfacher Familienvater und 2016 für 8000 Euro nur zehn kurze Monate nach Österreich gekommen. Genau das würde auch Naeem Sharifi (36) gerne tun, nur fehlen ihm dazu die finanziellen Mittel, denn auch er ist Vater, nämlich von zwei Buben und einem Mädchen.
„Als Bürger von Afghanistan sollte das eigene Land Priorität haben“, sagt Waseeq Surkhrodi in perfektem Englisch. 2014 hat er, anstatt wie viele seiner Freunde nach Europa aufzubrechen, sein Studium an einer Universität in Pakistan begonnen. Fünf Jahre später ist er nun Manager für Geschäftsentwicklung bei einem Obstverarbeitungsunternehmen für getrocknete und frische Früchte in Afghanistans Hauptstadt Kabul. Der 26-Jährige trägt Anzug und erzählt stolz, dass die Firma bereits auf den europäischen Markt exportiere, nämlich nach London. „Auch die Briten wundert es, wie afghanische Erzeugnisse mit solch hohen Standards überhaupt möglich sind.“
„Meine Landsleute sind tüchtig und aufrichtig“
Was ihn dazu bewegt hat, im Land zu bleiben? „Jeder hat dieses festgefahrene Bild von Afghanistan: Man glaubt, wir sind ein vom Krieg zerrissenes Land, das absolut nichts zu bieten hat, dabei sind meine Landsleute tüchtig und aufrichtig. Ich glaube, deshalb bin ich hiergeblieben und habe mich dazu entschlossen, am Wiederaufbau Afghanistans mitzuarbeiten, anstatt nach Europa zu gehen. Man muss aber auch dazusagen, dass mich meine Familie nicht motiviert oder gezwungen hat, nach Europa aufzubrechen, als die Tore offen waren“, sagt Surkhrodi.
Viele seiner Bekannten hätten einfach „kein konkretes Ziel“ gehabt und sich von Verwandten verleiten lassen. „Sie sind nur losgezogen, weil sie dachten: ,Mein Cousin ist nach Europa gegangen, warum sollte ich nicht auch hin?‘“, so der 26-Jährige. Seine Zusammenfassung: „Die Armen wandern nach Pakistan, die mit Geld fahren nach Europa.“
„Viele verdienen nach ihrer Rückkehr viel weniger als zuvor"
Schweren Herzens beobachtet Surkhrodi nun, wie sich die Flucht auf das Leben seiner Freunde ausgewirkt hat, vor allem nach deren Rückkehr. „Sie haben dafür ihr Studium abgebrochen. Familien haben Grundbesitz mit der Hoffnung verkauft, der auswandernde Sohn wird ein besseres Leben haben, seine Familie nach Europa holen oder mit dem verdienten Geld neue Besitztümer finanzieren“, so der 26-Jährige.
„90 Prozent meiner Freunde sind aber zurückgekehrt und haben nicht nur das Geld für die Reise verloren, sondern auch ihre Möglichkeiten, und müssen zunächst einmal ihr Studium nachholen. Andere hatten gute Jobs, tolle Gehälter (in Afghanistan; Anm.), wollten aber nach Europa. Nun sind sie arbeitslos, weil mittlerweile alle Stellen im generell limitierten Arbeitsmarkt besetzt sind. Viele verdienen dadurch jetzt ein Viertel weniger als zuvor.“
„Selbstmordanschläge kann man nie vorhersehen“
Er spricht auch von zerstörten Familien, von Freunden, die am Weg nach Europa gestorben sind, die in gewissen Teilen Afghanistans noch immer in Angst und Gefahr leben müssen. Wie er die Sicherheitslage im Land einschätzt? „Solange ich in Kabul lebe, ist es sicher. Für mich ist es sicher. Selbstmordanschläge kann man nie vorhersehen. Aber in manchen Bezirken und Dörfern ist es gefährlich. Selbst wir als Exportunternehmen haben keinen direkten Zugriff auf alle Gebiete und deren Produzenten. Wir setzen deswegen Verträge mit Mittelsmännern auf, die in Kontakt zu den Bauern stehen.“
Nach zehn Monaten Österreich den Rücken gekehrt
Für Bacht Kamal (39) ist Kabul hingegen unsicher. Im Jänner 2016 ist der siebenfache Familienvater für 8000 Euro über den Iran, die Türkei sowie Griechenland nach Österreich gekommen. Nach nur zehn Monaten - sein Asylantrag lief noch - nutzte er das Angebot der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und kehrte mit einem gestaffelten Startkapital von 3300 US-Dollar (rund 2900 Euro) nach Kabul zurück, um ein Geschäft zu eröffnen.
Denn seine Frau war plötzlich erkrankt. Auch eine Mietunterstützung über drei Monate hinweg hat er bekommen. Dennoch: Ab der Rückkehr sind Kosten angefallen, es mussten Familienausgaben beglichen werden - so waren das Geld sowie das Geschäft irgendwann futsch. Seine Sprachkenntnisse machen sich bemerkbar, Kamal spricht plötzlich Deutsch: „Vier Söhne und drei Töchter“ habe er.
„Sehr gefährlich“: „Viele Unsicherheiten“ in Kabul
„In Kabul gibt es Selbstmordanschläge, Kriminalität und viele Unsicherheiten.“ Dann sagt er sanft, wieder auf Deutsch: „sehr gefährlich“. Er kann leben, aber der Krieg, die Umweltverschmutzung sowie die Sicherheitslage seien unzumutbare Bedingungen für die Zukunft seiner Kinder. Integration in einem anderen Land sei kein Problem - er selbst hat zweimal pro Woche in Graz den Sprachkurs besucht, seine Kinder würden dasselbe tun.
Stichwort Kultur: krone.at spricht ihn auf die Ehrenmorde in Europa an. „Mord ist nie akzeptabel“, sagt Bacht. Er ist der Meinung, dass sich jeder dem Gesetz des Gastlandes anpassen muss. Seine Töchter sollen selbst entscheiden können. Auch wenn das heißt, dass sie in Europa Alkohol trinken und ausgehen? „Meine Töchter würden so was nicht machen. Wenn doch, sollte es ab ihrem 18. Lebensjahr ihre Entscheidung sein, was sie machen.“
Aber warum verlassen so viele Afghanen ihr Land, anstatt mit anzupacken? „Ich kann nicht alles in Afghanistan selbst verändern“, erklärt Bacht. „Wenn der Krieg vorbei ist und endlich Frieden herrscht, wird sich Schritt für Schritt alles verbessern.“ Wir haken nach: Wenn alle auf Frieden im Land warten und währenddessen woanders Zuflucht suchen, dann baut demnach keiner das Land auf? „So ist es“, sagt Bacht. Falls er erneut das Land verlassen sollte, will er im Vorhinein die Sprache seines Ziellandes lernen. Warum er nicht um ein Visum bei der österreichischen Botschaft im knapp 400 Kilometer entfernten Islamabad in Pakistan angesucht hat? „Ich werde es versuchen.“
„Money problem“: Auswandern nach Europa unmöglich
Der Wunsch, Afghanistan zu verlassen, ist allgegenwärtig. Im Norden des Landes, in Masar-e Scharif, einer Stadt mit fast 500.000 Einwohnern, treffen wir den 36-jährigen Naeem Sharifi. Gemeinsam mit seinen Brüdern betreibt er ein kleines Geschäft mit Lebensmitteln, Kosmetikartikeln sowie frischem Obst und Gemüse. Er hat sich schon oft überlegt, über die Türkei und Griechenland in Richtung Europa zu starten, doch ihm fehlt das Geld - „money problem“. Vor allem, wenn er den Preis für die ganze Familie berechnet (zehnmal 4000 Euro). Er verdient so oder so zu wenig, da bleibt nichts übrig zum Sparen.
„Es wird schlimmer, ich habe keine Hoffnung“
„Die Miete für mein Geschäft ist ziemlich hoch, ich zahle dafür umgerechnet 500 Dollar im Jahr. Das alleine ist für mich schon viel Geld.“ Wie schätzt er die Zukunft des Landes ein, wo sieht er es in zehn bis 20 Jahren? Die entwaffnend ehrlich Antwort, die fast wie ein Scherz klingt: „Es wird schlimmer, ich habe keine Hoffnung.“ Trotz der Friedensgespräche? „Die afghanischen Politiker haben keine guten Absichten.“
Sharifis Blick schweift öfters ab, er denkt an ein besseres Leben und an die Freunde, die fort sind. Einer von ihnen war in Deutschland und ist zurückgekehrt. Naeem war überrascht und erhielt von ihm auf die Frage, warum er zurückgekehrt sei, die Antwort, die Arbeit sei „schwierig“ gewesen, „aber auch der Kulturunterscheid war groß“. Sein Freund sei - was die Religion betrifft - viel konservativer als er, sagt der 36-Jährige. Hätte er selbst es auch schwierig im „freien Europa“? Naeem lacht endlich wieder: „Ganz und gar nicht, für mich wäre es einfach.“
krone.at-Videoreporter Alexander Bischofberger hat sich eine Woche lang in Afghanistan umgesehen und beschreibt seine Eindrücke in der großen krone.at-Asyl-Serie. Teil 1 können Sie hier nachlesen.
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