20 Jahre nach der Lawinenkatastrophe von Galtür mit 31 Toten: Zeitzeugen sprechen über den steinigen Weg zurück. Eine „Krone“-Spurensuche im Tiroler Paznauntal.
Es sind 31 Namen, die auf den Gedenksteinen am kleine Friedhof stehen. Namen von 25 Urlaubern und sechs Einheimischen. Sie starben am 23. Februar 1999 wenige Meter von der Kirche entfernt. An einem stürmischen Nachmittag, an dem eine der größten Lawinenkatastrophen der Alpen über den 700-Seelen-Ort Galtür im Tiroler Paznauntal hereinbricht.
„Die Lawine wird immer ein Teil von uns sein“, sagt Diakon Karl Gatt und blickt kurz Richtung Berggipfel. Gatt saß mit seiner Frau bei einem Kaffee, als es dunkel wurde im Ort. Wie vielen Einheimischen ist dem Seelsorger rasch klar, dass etwas Schreckliches passiert ist. Im Gemeindeamt sitzt Bürgermeister Anton Mattle. Auch er weiß: Jetzt ist eine große Lawine abgegangen. „Aber niemand konnte damals ahnen - das hat später ein Gutachten bestätigt -, dass es so schlimm kommen wird“, erinnert sich der Dorfchef.
Leben an der Mauer
Mattle steht nun auf dem Dach des „Alpinarium“. Ein Museum, das nach dem Wiederaufbau in die riesige Mauer integriert wurde, die Galtür heute vor den zerstörerischen Naturgewalten schützt. Überall stehen Mauern. Mehr als zwölf Millionen Euro flossen nach dem Lawinenwinter in Schutzbauten. „Die riesigen Dämme wirkten auf mich zuerst sehr befremdlich. Bis ein Gast mich fragte, ob das Reste einer Stadtmauer sind. Diese Frage hat mich irgendwie befreit.“ Mattles Erzählung lässt erahnen, wie sich die Einheimischen Stück für Stück aus der Umklammerung des Traumas lösten. Dann sagt der Dorfchef einen Satz, den wenig später auch Bergführer Christoph Pfeifer ausspricht: „Die Galtürer sind dieselben geblieben.“
Die Lehren der Väter
Pfeifer spricht über den Respekt vor der Natur, der im Dorf am Ende des Tals immer vorhanden war. Was sollen die Galtürer auch tun, wenn direkt hinterm Haus das Hochgebirge beginnt. Als die Katastrophe hereinbrach, reagierten die Einheimischen, wie es ihnen die Väter gelehrt hatten: In der Not ist der Nachbar der Nächste. „Wir haben getan, was zu tun war und was wir konnten - Einheimische und Urlauber. Und danach haben wir weitergelebt. Es blieb uns auch nichts anderes übrig“, meint Pfeifer kurz und knapp. Seelsorger Gatt bringt noch eine tief verwurzelte Tradition ins Spiel - den Glauben: „Die Leute hier konnten sich immer im Glauben trösten. Er hat sie gestärkt, ihnen Zuversicht gegeben.“
Vom Reden und Schweigen
Gegenseitige Schuldzuweisungen blieben in den Jahren danach aus. Eine angedachte Sammelklage von Hinterbliebenen der Urlauber wurde nie eingereicht. Nur der Katastrophentourismus und einige sensationshungrige Journalisten haben den Ort immer wieder einmal in Unruhe versetzt. Auch damit haben die Galtürer gelernt umzugehen. Auf ihre Art! Wenn es notwendig ist, errichten sie eine schützende Mauer des Schweigens um ihr Dorf.
Als sich heuer im Jänner aufgrund der starken Schneefälle Galtür unversehens im Rampenlicht wiederfand, stellte sich der Bürgermeister hin und erklärte ruhig, sachlich, sehr bestimmt, dass von einer Katastrophenstimmung nicht die Rede sein könne. „Wegen oana Guxa fürcht man uns nit“, drückt es Diakon Gatt aus. Eine Guxa (Schneeverwehung) oder eine Straßensperre versetzen hier niemand in Panik. Wenn die Natur aufbraust, reagieren die Galtürer ruhig. „Weil wir keine Angst haben, haben es auch unsere Gäste nicht“, verweist Bergführer Pfeifer darauf, dass auch nach 1999 viele Urlauber dem Ort die Treue hielten. Die Galtürer und ihre Gäste sind eine Schicksalsgemeinschaft. Sie verbindet die Gewissheit, dass es ein Überleben gibt.
„Dann ist es gut so“
Am Samstag um 17 Uhr wird bei einer Gedenkfeier an die Ereignisse erinnert. „Wir haben alle eingeladen. Ich weiß nicht, wer kommt. Vielleicht sitzen Hinterbliebene unerkannt in der letzten Reihe. Wenn es so ist, dann ist es gut so“, meint Bürgermeister Mattle. Er tut es in der für Galtür so typischen Ruhe, mit der sich das Dorf aus dem Schatten der Lawine befreit hat.
Chronologie der Katastrophe
Februar 1999: Es schneit seit Wochen. Das Paznauntal im Tiroler Oberland ist von der Außenwelt abgeschnitten. Per Helikopter werden Einheimische und Urlauber versorgt. Die Lage spitzt sich Tag für Tag zu. Am 23. Februar legt sich gespenstische Ruhe über das Tal. Um 16.30 Uhr wird sie durchbrochen durch einen Funkspruch: „Wir sitzen hier drinnen, es ist eine riesige Lawine abgegangen, teilweise bis zur Kirche und mitten ins Dorf.“ 300.000 Tonnen Schnee haben Teile Galtürs unter sich begraben - bis zu acht Meter hoch. Mehr als 60 Personen werden verschüttet, 26 Häuser getroffen. Einheimische und Gäste sind auf sich allein gestellt, weil Schneestürme Hilfsflüge unmöglich machen. 24 Stunden nach der ersten Lawine die nächste Hiobsbotschaft: In Valzur (Gemeinde Ischgl) werden zwölf Menschen verschüttet.
Erst am 25. Februar klart der Himmel auf. Um 6.45 Uhr beginnt die größte Evakuierungsaktion, die Österreich je gesehen hat. 18.000 Menschen werden ausgeflogen. Die Bilanz der Katastrophe: 38 Menschen sind tot, 28 zum Teil schwer verletzt. 13 Häuser zerstört, 42 beschädigt.
Claudia Thurner, Kronen Zeitung
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