Anne Franks Tagebuch aus dem Versteck in dem von Nazis besetzten Amsterdam hat Millionen Leser bewegt. Erstmals rückt der eigenständiger Band ihr Talent in neuer Übersetzung aus dem Niederländischen in den Mittelpunkt.
Im Frühjahr 1944 kam Anne Frank auf die Idee, ein Buch über ihre Zeit im Versteck zu schreiben und ihr Tagebuch als Grundlage zu nehmen. Zwei Monate später begann sie mit ihrem „Roman“, doch das Manuskript blieb unvollendet. Die Neuerscheinung „Liebe Kitty“ ist eine einzigartige Edition des Entwurfs zu ihrem Roman. Für die Veröffentlichung eingesetzt hat sich die 91-jährige Literaturwissenschaftlerin Laureen Nussbaum, die mit der Familie Frank einst bekannt war.
Nussbaum hat sehnsüchtig auf den 11. Mai gewartet. „Dafür habe ich mich 25 Jahre eingesetzt“, sagt die Literaturwissenschaftlerin und blickt in Berlin auf ein kleines Buch. Auf knapp 200 Seiten liegt ein historisches Dokument vor ihr - und ein literarisches Vermächtnis. „Liebe Kitty“ ist Anne Franks schriftstellerisches Zeugnis, ein „Romanentwurf in Briefen“. Das Buch erscheint in Zusammenarbeit mit dem Anne Frank Haus in Amsterdam.
Die 91-Jährige, die als Jüdin mit ihrer Familie die nationalsozialistische Verfolgung in Amsterdam überlebte, hatte nach dem Krieg Annes Begabung erkannt. Für die Präsentation des neuen Buches war sie aus den USA nach Berlin gekommen, berichtet sie im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur lebhaft und mit vielen Einzelheiten über ihre Arbeit und die Erinnerung an die Familie Frank. „Von den beiden Frank-Mädchen habe ich Margot, Annes ältere Schwester, besser gekannt. Sie war ein Vorbild für mich. Anne war damals für mich ein kleines Kind und in der für Kinder typischen Überheblichkeit habe ich sie nicht sehr ernst genommen.“
Otto Frank ließ ganze Passagen aus
„Das Tagebuch, das wir alle kennen, ist ein Amalgam, ein Gemisch aus dem spontanen Tagebuch und Annes späterer Überarbeitung“, sagt die 1927 als Hannelore Klein in Frankfurt am Main Geborene. Franks Vater Otto, der als einziger der Familie den Holocaust überlebte, hatte nach dem Krieg im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 die Tagebücher seiner damals noch als vermisst geglaubten Tochter entdeckt. Als deutlich wurde, dass Anne das Konzentrationslager Bergen-Belsen nicht überlebt hatte, entschied er sich zur Veröffentlichung. Er zog dabei auch Nussbaums Eltern zu Rate. „Sie haben Otto Frank eine Veröffentlichung empfohlen.“ Doch Frank ließ dabei ganze Passagen aus. Und er vermischte Originalaufzeichnungen mit von Anne selbst überarbeiteten Textteilen.
Dabei hatte sich Anne Frank im Frühjahr 1944 entschlossen, das Tagebuch vollkommen umzuarbeiten und in einen Briefroman zu verwandeln, so Nussbaum. Die Trennung von Tagebuch und Roman habe sie damals deutlich vor Augen gehabt. Ihre Briefe und Tagebücher, so hatte es sie sich vorgestellt, sollten nach dem Ende der Verfolgung der Forschung dienen.
„Natürlich bestürmen mich alle sofort wegen meines Tagebuchs“, berichtete sie ihrer imaginären Freundin Kitty am 29. März 1944. Doch sie fügte hinzu: „Stell Dir mal vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman über das Hinterhaus herausbringen würde. Allein vom Titel her würde die Leute denken, es sei ein Detektivroman.“ An anderer Stelle äußerte sie den Wunsch, Journalistin und „eine berühmte Schriftstellerin“ zu werden.
Nachdem Otto Frank 1980 gestorben war, kam Nussbaum allmählich dem Rätsel auf die Spur. In der kritischen Ausgabe der Niederlande waren eine A-Fassung, das Tagebuch, eine B-Fassung, der Romanentwurf, abgedruckt. Aus beiden hatte Otto Frank „aus unerfindlichen Gründen“ die C-Fassung, das heute bekannte Tagebuch, zusammengestellt.
Neuveröffentlichung ist Akt der Wiedergutmachung
„Es ist wichtig, dass wir Anne Frank als Schriftstellerin ernst nehmen, dass man überhaupt junge Menschen ernst nimmt. Dieser Briefroman zeigt, was ein junger Mensch alles kann“, sagt Nussbaum. „Das schulden wir Anne“, ergänzt Verleger Joachim Zepelin, „dass wir veröffentlichen, was sie uns angeboten hat.“ Anne Frank starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
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