„Seelen gebrochen“

Hungertod in Wien: Das Drama hinter Tür Nummer 17

Wien
26.05.2019 06:00

Draußen würde bloß das Böse lauern, bläute eine Mutter ihren beiden Töchtern ein. Bis sie ihr glaubten. „Die Seelen der Mädchen wurden gebrochen“, ist sich ein Experte sicher. Dann verließen die Frau und die Zwillinge ihre Wohnung nicht mehr - und verhungerten. 

Grauenhaft, gespenstisch, absurd müssen die Szenen gewesen sein, die sich in einer 54 Quadratmeter großen Wohnung im zweiten Stock eines Gemeindebaus in Wien-Floridsdorf zugetragen haben. Nachdem Vesna M. (45) und ihre 18-jährigen Zwillingstöchter Zusana und Tanja damit aufgehört hatten, Nahrung zu sich zu nehmen.

Sie starben einen stillen Tod
Vielleicht dauerte ihr Dahinsiechen ein paar Wochen, vielleicht weniger lang – sicher ist lediglich: Mit jedem Tag, an dem die drei Frauen nichts aßen, verschlechterte sich ihr körperlicher und geistiger Zustand. Sie wurden schwächer und verwirrter. Bis sie, wahrscheinlich innerhalb eines kurzen Zeitraums, eine nach der anderen verstarben. Gerichtsmediziner schätzen ihren Todeszeitpunkt auf „Ende März, Anfang April“ ein.

Hinter dieser Tür verhungerte die dreiköpfige Familie. (Bild: Andi Schiel)
Hinter dieser Tür verhungerte die dreiköpfige Familie.

Aber erst Monate später, am 21. Mai, wurde das Drama hinter Nummer 17 entdeckt. Das Drama, dieses unfassbare Drama, das seinen Anfang bereits vor Jahren genommen hatte. Leise, schleichend. Unbemerkt. Weil ja auch schon davor so viele fürchterliche Dinge geschehen waren im Leben der Opfer.

Ihre Geschichte? Vesna M. wanderte vor etwa 15 Jahren mit ihrem Mann und den zwei Kindern von Serbien nach Österreich aus. Und ja, anfangs schien es sogar, als würde es das Paar schaffen, hier Fuß zu fassen. Der Mann fand schnell einen Job. Aber er war trotzdem unzufrieden, mit sich, mit seinem Dasein in der Fremde. Schließlich begann er zu trinken. Der Alkohol machte streitsüchtig, aggressiv, gewalttätig. Und immer öfter ließ er seine Wut an seiner Frau und den beiden Mädchen aus.

(Bild: APA/HANS KLAUS TECHT)

Die Mutter fühlte sich verfolgt
2012 flüchtete die Mutter mit den Zwillingen in ein Frauenhaus. 2014 wurden die drei in einer WG untergebracht, 2015 bekamen sie die Gemeindewohnung in Wien-Floridsdorf zugeteilt. Und alles schien gut. Die Panikattacken und Verfolgungsgedanken, unter denen Vesna M. seit Zerbrechen ihrer Ehe gelitten hatte, waren durch die Einnahme von Psychopharmaka verschwunden. Zusana und Tanja galten in der NMS, die sie besuchten, als fleißig – und auch später, nach ihrem Übertritt in eine wirtschaftliche Fachschule, schrieben sie hervorragende Noten.

(Bild: APA/HANS KLAUS TECHT)

Zwillinge von Schule abgemeldet
Völlig unerwartet wurden die Zwillinge dann jedoch im Dezember 2016 von ihrer Mutter vom Unterricht abgemeldet, die Lehrer schlugen deshalb Alarm. „Sozialarbeiter überprüften in der Folge die Lebensumstände der M.s“, so Andrea Friemel, Sprecherin des Wiener Jugendamts. Die Ergebnisse der Nachforschungen, die bis März 2017 andauerten? Das Zuhause der kleinen Familie habe ordentlich gewirkt, die Frau und die Zwillinge hätten keinen vernachlässigten Eindruck gemacht – und den plötzlichen Schulabbruch damit erklärt, „dass die Schwestern Geld verdienen wollten. Beide bemühten sich bereits um Lehrstellen – Tanja in einem Sozialberuf, Zusana plante, Tierpflegerin zu werden.“

Und sonst? „Die Mutter und die Mädchen verhielten sich in den Gesprächen eher ruhig, doch nicht verschüchtert. Wir rieten ihnen, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen, und vermittelten sie an Vereine.“ Vesna M. und ihre Töchter nahmen keines dieser Angebote an; im Gegenteil, die Frau kapselte sich und ihre Kinder zunehmend von der Außenwelt ab. Zunächst unternahmen Tanja und Zusana noch kleine Fluchtversuche, sie rannten manchmal panisch ins Freie. Danach seien sie von der Mutter – berichten Nachbarn – „entsetzlich beschimpft und wahrscheinlich auch geschlagen“ worden.

Gefangen – in einem Mikrokosmos des Irrsinns
Irgendwann schafften es die Zwillinge nicht mehr, zu kämpfen. Sie gaben sich auf, wurden zu Gefangenen des Wahnsystems der Frau. Und sie glaubten ihr, wenn sie von dem Bösen, das draußen überall auf sie lauere, erzählte. Im Februar wurden Vesna M. und ihre Töchter zum letzten Mal in einem Supermarkt gesehen. Alle drei sollen damals extrem verängstigt gewirkt haben. Danach verließen sie nie wieder ihre Wohnung.

(Bild: APA/HANS KLAUS TECHT)

„Die Seelen der Mädchen wurden gebrochen“
Der Vorarlberger Gerichtspsychiater Reinhard Haller erklärt, wie es Vesna M. gelang, ihre beiden Kinder zu willenlosen Skavinnen ihres Irrsinns zu machen.

„Krone“: Wie konnte es zu dieser Tragödie kommen?
Reinhard Haller: Die Mutter litt, dessen bin ich mir sicher, an massiven Wahnvorstellungen. Die sie nach und nach auf ihre Töchter übertrug; am Ende so sehr, dass die Mädchen nicht mehr dazu fähig waren, den Irrsinn ihrer Handlungen und Befehle zu erkennen.

Aber die Zwillinge sollen intelligent gewesen sein.
Trotzdem, die Frau war ihre engste Bezugsperson, sie standen also unter einem großen emotionellen Einfluss von ihr.

Reinhard Haller (Bild: Markus Wenzel)
Reinhard Haller

Die Kinder begaben sich demnach freiwillig in das von der Mutter erschaffene „Exil“?
Anfangs versuchten sie wahrscheinlich noch, daraus zu flüchten, doch mit der Zeit wurden ihre Seelen gebrochen. Durch die Gehirnwäsche, die ständig an ihnen geschah.

Warum stellten die drei letztlich die Nahrungsaufnahme ein?
Vielleicht trauten sie sich in ihrer Angst vor dem Bösen draußen nicht einmal mehr, einkaufen zu gehen. Vielleicht glaubten sie, alle Lebensmittel seien vergiftet.

Und sie riskierten in der Folge sogar den Tod?
Es ist eher davon auszugehen, dass die Mutter in ihrer Verrücktheit das Hungern als Überlebensstrategie sah.

Martina Prewein, Kronen Zeitung

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