„Sexy“ Selfies und „coole“ Fotos aus der Atom-Hölle für ein paar Likes mehr: Seit dem Erfolg der TV-Miniserie „Chernobyl“ (siehe Trailer im Video oben) tauchen auch aus der ukrainischen Sperrzone immer mehr geschmacklose Fotos auf Instagram auf, selbst in Unterwäsche lassen sich Besucher in lasziven Posen vor dem AKW ablichten. Ist es grundsätzlich erfreulich, dass mehr Menschen dank der Serie den Unglücksort besuchen und etwas über die Katastrophe lernen wollen, wissen viele vor allem jüngere Touristen wieder einmal nicht, wie man sich an einem solch historischen Ort angemessen verhält. Oder haben sich durch die Technologie einfach nur die Zeichen der Zeit geändert?
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 war eine der schlimmsten von Menschen verursachten Katastrophen der Welt (siehe auch Video unten). Es ist ein kleines Experiment, das die Explosion im Reaktorblock 4 des AKW auslöste. Die Strahlung, die aus dem Atommeiler drang, war 40-mal höher als jene nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im Zweiten Weltkrieg. Auch Österreich war betroffen.
Die fünfteilige Miniserie „Chernobyl“ von Schöpfer und Drehbuchautor Craig Mazin und Regisseur Johan Renck ist eine zutiefst verheerende und menschliche Erkundung dessen, was dazu geführt hat. Die Serie - eine wahrlich dunkle Angelegenheit und weit entfernt von leichter sommerlicher TV-Kost - wurde völlig zu Recht zu einem sensationellen Welthit. Man will den Blick als Zuseher ganze Szenen über abwenden, aber den Blick nicht abzuwenden, heißt die Bedeutung dieser Miniserie zu absorbieren.
Massiver Zustrom an Touristen wegen der Miniserie
Seit dem gewaltigen Erfolg der HBO-Produktion (siehe auch Trailer unten), die hierzulande auf Sky zu sehen ist, verzeichnet das seit der Reaktorkatastrophe stillgelegte AKW in der Nähe der ukrainischen Stadt Prypjat einen massiven Zustrom an Touristen. In Prypjat lebten bis zu 80.000 Menschen, die größtenteils im Kraftwerk arbeiteten. Nach dem Unglück wurde der Ort zu einer Geisterstadt - und Jahre später zu einer Touristenattraktion für Besucher.
Im Jahr 2018 wurden laut Tschernobyl-Reiseveranstaltern um die 60.000 Besucher gezählt. Seit der Ausstrahlung der Serie sind die Besucherzahlen binnen kürzester Zeit um rund 40 Prozent gestiegen, berichtet der britische „Guardian“. Aber Feinfühligkeit dafür, wie man sich an einem solch historischen Ort einer Katastrophe verhält, die nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO mindestens 4000 Menschen das Leben gekostet hat, scheint im Social-Media-Zeitalter nicht jeder zu besitzen.
Denn vielen Besuchern reicht es nicht aus, mehr über die Geschichte Tschernobyls zu lernen und sich einen Eindruck von dem Sperrgebiet zu verschaffen. Stattdessen posten vor allem junge Touristen Fotos und Selfies auf Instagram und Co., auf denen sie mal cool an ausgebrannten Autowracks lehnen oder fröhlich grinsend in einem der verlassenen Autoscooter sitzen.
Frau lässt sich fast nackt in der Sperrzone ablichten
Andere lichten sich in Rapper-Pose oder gar lasziv vor dem Riesenrad der Stadt ab. Sogar mit freiem Oberkörper hat sich ein Tourist vor dem Atomkraftwerk abgelichtet und das Bild mit den Hashtags #chernobyl, #nuclear und #powerofnature auf Instagram veröffentlicht. Eine junge Frau ist indessen fast nackt zu sehen: Nur spärlich bekleidet und mit herunterhängendem Schutzoverall posiert sie in der Schutzzone. Einige der Bilder, die online in die Kritik gerieten, wurden mittlerweile wieder entfernt.
Doch auch wenn sich jetzt viele über die Pietätlosigkeit der Instagrammer aufregen: Shitstorm-Berichte, wonach jetzt Influencer die frühere Atom-Hölle stürmen würden, sind so nicht ganz richtig. Nur ein kleiner Teil der fragwürdigen Selfies und Fotos aus Teschernobyl stammt von echten Influencern. Denn nicht jeder, der auf Instagram vertreten ist, ist auch ein Influencer - schon gar nicht mit mageren 1500 Followern auf der Social-Media-Plattform. Aber vielleicht sei ja die Hoffnung bei so manchem Instagrammer, dank sexy Posen am Ort der Reaktorkatastrophe mehr Likes und in weiterer Folge mehr Follower zu lukrieren, so die Kritik an den Aufnahmen.
Nicht alle kritisierten Bilder sind aktuelle Aufnahmen
Nicht alle der jetzt kritisierten Aufnahmen sind jedoch aktuelle Bilder. Ein Foto mit einem jungen Mann mit Geigerzähler in der Hand (siehe Tweet unten) kursiert etwa bereits seit 2010 im Internet. Eine Aufnahme mit einer jungen Frau vor dem Wrack eines Schulbusses in Prypjat zeigt wiederum eine ukrainische Studentin, die in der Bildunterschrift über die Auswirkungen der Katastrophe auf ihr eigenes Leben nachdenkt - vor der Ausstrahlung der Miniserie.
Craig Mazin, Autor und Produzent von „Chernobyl“, äußerte sich mittlerweile auf Twitter selbst zu den Bildern in den sozialen Netzwerken: Es sei wunderbar, dass die Miniserie eine „Welle“ an Menschen zu einem Besuch der Sperrzone inspiriert habe, so Mazin. „Doch ich habe einige Bilder gesehen, die gerade im Umlauf sind. Wenn ihr Tschernobyl besucht, bitte erinnert euch, dass dieses schreckliche Ereignis hier geschah. Verhaltet euch mit Respekt für all jene, die gelitten und sich geopfert haben.“
Die Kritik an dem unangemessenen Verhalten der Instagrammer mag verständlich sein, spiegelt aber auch unsere sich verändernde Beziehung zur Technologie wider. So wird in einem Beitrag des renommierten Magazins „Atlantic“ von einer Technologieexpertin darauf verwiesen, dass der aktuelle Stil auf Instagram sei, keine Bilder der Umgebung, sondern eben von sich in der Umgebung zu posten. Die meisten Leute, die „gestellte“ Bilder von sich an tragischen Orten machen, würden demnach nur versuchen, ihre Erinnerung an einen Ort innerhalb der aktuellen Normen bzw. dem Stil der Social-Media-Plattform zu erfassen - und nicht versuchen, besonders respektlos zu sein.
Besucher dringen unerlaubt bis in Kontrollraum des AKW vor
Problematisch am Verhalten vieler Besucher ist aber auch ihre Ignoranz die Regeln betreffend: Das radioaktiv verseuchte Gebiet rund um Reaktor 4 darf eigentlich nur im Rahmen offizieller Touren betreten werden. Für ihre Fotos verschaffen sich manche Besucher aber unerlaubt Zugang zu Gebäuden und sogar zum Kontrollraum des Atomkraftwerks, in dem vor 33 Jahren die Katastrophe ihren Lauf nahm - obwohl das Betreten der Einrichtungen seit 2012 verboten ist. Teilweise dürften auch illegale Touren angeboten werden, das Geschäft mit Tschernobyl boomt.
Zu einer ähnlichen Debatte war es bereits vor rund fünf Jahren gekommen - nach Selfies im Konzentrationslager Auschwitz. Die Gedenkstätte rief damals zu einem angemessenen Verhalten auf, fotografieren ist aber weiterhin erlaubt. Ähnliche Empörungswellen lösten unter anderem Selfies auf Soldatenfriedhöfen oder dem Holocaust-Mahnmal in Berlin aus.
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.