Menschen, die von der psychischen Störung Depersonalisation betroffen sind, empfinden sich selbst und die Welt, in der sie leben, als nicht real. Diese Erkrankung ist weitgehend unbekannt, obwohl sie häufiger auftritt, als man denkt.
Bereits seit seiner Kindheit litt Herr W. immer wieder unter Phasen, in denen er sich nicht richtig anwesend vorkam, vor allem bei Stress in der Schule. Nach der Matura erlebte der heute 44-Jährige eine Zeit mit besonders viel psychischem Druck. Eines Morgens konnte er sich im Spiegel plötzlich nicht mehr erkennen. Dieser eigenartige Zustand blieb seit damals dauerhaft bestehen und weitere Symptome folgten.
Gefangen in der Unwirklichkeit
Herr W. hat ständig das Gefühl, als sei er nicht mehr er selbst, handle wie ein Roboter und könne seine Bewegungen nicht mehr richtig steuern. Zudem verspürt der Mann starke emotionale Einschränkungen, hat den Eindruck, nichts mehr für Menschen zu empfinden, die ihm eigentlich wichtig sind und fühlt sich oft völlig emotional taub. Auch auf kognitiver Ebene zeigen sich Beeinträchtigungen wie starke Konzentrationsprobleme, Schwierigkeiten, klare Gedanken zu fassen sowie deutlich eingeschränkte Merkfähigkeit. Sehstörungen (das Gefühl durch Nebel zu schauen) treten ebenfalls auf. Seine vertraute Umwelt kann Herr W. nur noch schwer als bekannt wahrnehmen und er wird immer wieder von starken Ängsten geplagt. Die größte Furcht besteht davor, verrückt zu sein. Eine Vielzahl an Arztbesuchen sowie zwei stationäre Psychiatrieaufenthalte verbesserten nichts an der Symptomatik.
Weitgehend unbekannte psychische Störung
Es war ein weiter Weg, bis zur Diagnose, die auf sein Empfinden passte: Depersonalisation und Derealisation. Dieser Zustand ist nicht selten, kann nach Schlafentzug, großer körperlicher Anstrengung oder Einnahme bestimmter Medikamente bzw. Substanzen auftreten. „Zumindest die Hälfte aller Personen erlebt dies wenigstens einmal in ihrem Leben. Bei etwa 2 Prozent der Österreicher nimmt die Depersonalisation allerdings einen chronischen Verlauf, tritt also immer wieder oder auch dauerhaft auf und gehört nach Depression und Angst zu den häufigsten psychischen Erkrankungsbildern“, erklärt Simone Philipp, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision in Graz. Oft manifestiert sich die Problematik bereits in jungen Jahren. Das Wissen ist aber sogar unter Ärzten und Therapeuten noch gering, es kommt immer wieder zu falschen Diagnosen und Behandlungen. Auch mögliche Auslöser der Störung kennt man bis dato zu wenig.
Selbsthilfe, um die Symptome zu verringern
Die Therapie von Depersonalisation ist schwierig und keine Kurzzeitbehandlung. Obwohl sich oft bereits nach wenigen Wochen eine Reduktion der Symptome zeigt, erfordert es meist wöchentliche Sitzungen über mehrere Monate und regelmäßiges Üben zu Hause, wie Simone Philipp erklärt. Das therapeutische Vorgehen beinhaltet mehrere Bereiche. Den Betroffenen werden Methoden an die Hand gegeben, die sie selbst anwenden können, um ihre Beschwerden besser zu kontrollieren. Wichtig ist, diese jeden Tag und über längere Zeit zu Hause anzuwenden. Oft kommt es zu einer raschen Besserung.
Weiters helfen Übungen zur Steigerung der Körperwahrnehmung, spezielle Methoden, um Emotionen bewusst hervorrufen, wahrnehmen und durchleben zu können, sowie Techniken zur Verbesserung der kognitiven Kompetenzen (z. B. „Gehirnjogging“). Ebenso gezieltes Augentraining, Wahrnehmungsübungen sowie Konfrontationsmethoden, um zu lernen, seine Ängste auszuhalten. Auch gilt es zu erkunden, was genau die Krankheitsanzeichen ausgelöst hat bzw. immer wieder auslöst und wann und wie sie genau auftreten. Gelingt es, die eigene Symptomatik besser zu verstehen, ist man ihr nicht mehr so ausgeliefert. Hierzu werden oft Tagebücher eingesetzt, in denen die Betroffenen festhalten, in welchen Situationen Beschwerden auftreten, wann sie stärker oder schwächer erscheinen.
Auslöser erkennen, Rückfälle verhindern
Häufig ist zu viel Stress als Auslöser einer chronischen Depersonalisation ausmachbar, die sich dann als Art Schutzmechanismus darstellt. Oft stehen auch Themen wie Schuld, Scham, Einsamkeit oder Verzweiflung dahinter. An diesen wird in der Therapie weitergearbeitet, wie Simone Philipp erläutert. Betroffene werden auch darin unterstützt, ihren Fokus von der Erkrankung weg und auf andere Dinge zu lenken. In der Therapie muss man dafür mit einer gewissen Dauer rechnen, da die Symptome als sehr präsent und sich aufdrängend erlebt werden. Einen wichtigen Teil stellt auch die Rückfallprophylaxe dar. Beispielsweise Möglichkeiten finden, wie sich in zukünftigen stressigen Situationen verhindern lässt, dass die Beschwerden auftreten.
Vermeidungsverhalten der Patienten abbauen
Die meisten von Depersonalisation Betroffenen bemühen sich darum, alle Situationen zu vermeiden, in denen sich ihr Zustand verschlechtern könnte. Sie nehmen daher zum Beispiel wenig am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teil, fahren oft nicht mehr Auto und sprechen kaum über ihr Leiden. Dieses Vermeidungsverhalten gilt es nach und nach abzubauen, die positiven Seiten des Daseins aufzuzeigen und den Betroffenen wieder mehr Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Dazu müssen in der Therapie oft kleinste Schritte geübt werden. Im Lauf der Zeit können sich die Patienten dann aber wieder immer mehr Bereiche zurückerobern, ihren Handlungsraum deutlich ausweiten, was die Lebensqualität schließlich erheblich verbessert.
Weitere Informationen finden Sie unter www.dp-selbsthilfe.at.
Regina Modl, Kronen Zeitung
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