Ausgerechnet Harley-Davidson macht als erster namhafter Hersteller mit Elektro-Motorrädern ernst: Die LiveWire läutet nicht nur eine neue Ära in Milwaukee ein, sondern ist auch Startschuss zu einer Modell-Offensive, mit der die Marke ein breiteres Publikum ansprechen will.
Eine Harley, die nicht nach Benzin, Rebellion und Freiheit riecht und obendrein noch dazu leise ist? Gibt’s nicht? Doch! Ab Ende September steht die LiveWire, das erste Elektromotorrad von Harley-Davidson, bei den Händlern. Das nicht nur äußerst geräuscharm dahinsurrt, sondern sich auch überraschend sportlich fahren lässt, wovon sich die „Krone“ bei der offiziellen Präsentation in Portland/Oregon überzeugen konnte.
Volles Drehmoment immer verfügbar
Angetrieben wird das Motorrad vom „H-D Relevation“ getauften Permanentmagnet-Elektromotor, der 106 PS (78 kW) leistet, die per Zahnriemen ans Hinterrad gebracht werden. Das Besondere an solch elektrisch betriebenen Fahrzeugen: Das Drehmoment von 116,6 Newtonmetern steht jederzeit in vollem Umfang zur Verfügung, was für ein völlig neues Fahrgefühl sorgt, die LiveWire wie vom Gummiband gezogen lospreschen lässt. Da können herkömmliche Bikes mit Verbrennungsmotor bei der Kurvenhatz nur schwer mit bzw. müssten schon sehr gut im optimalen Drehzahlbereich gehalten werden.
Auch weil die Harley richtig gute Komponenten verpasst bekommen hat, weder beim Fahrwerk noch bei den Bremsen Kompromisse eingeht: Die voll einstellbare Showa-USD-Gabel, das wie das Showa-Zentralfederbein 115 Millimeter Federweg bietet, arbeitet präzise, zwei 300-Millimeter-Doppelscheiben mit Monoblock-Bremszangen von Brembo verzögern auf gutem Power-Nakedbike-Niveau.
Auch die Sitzposition ist relativ sportlich, weil der Oberkörper recht weit über die Tank-Attrappe nach vorne gebeugt werden will, um den eher schmalen Lenker zu erreichen. LED-Rundumbeleuchtung versteht sich von selbst, erstmals überhaupt kommt eine Harley-Davidson mit sämtlichen verfügbaren elektronischen Sicherheitsfeatures daher - vom Kurven-ABS über schräglagenabhängige Traktionskrontrolle bis hin zu Wheelie- und Stoppie-Control.
120 kg schwerer Akku
Unter der Tank-Attrappe ist das 120 Kilogramm schwere Herzstück des Bikes, der 15,5-kWh-Hochleistungsakku, fest mit dem Alu-Gussrahmen verschraubt und hat so eine tragende Rolle im knapp 250 kg schweren Motorrad, das in drei Sekunden von Null auf 100 beschleunigt. Für den Zwischensprint von 60 mph (96,6 km/h) auf 80 mph (128,8 km/h) benötigt die LiveWire ganze 1,9 Sekunden. Elektrisierend, Dauergrinsen unterm Helm inklusive! Geht man vom Gas, gibt es auch eine Art „Motorbremse“: Durch die Rekuperation im Schiebebetrieb wird die Batterie nachgeladen, was speziell im städtischen Stop-and-Go-Verkehr für längere Reichweiten sorgt.
Womit wir schon bei der spannendsten aller Fragen angelangt sind: Wie weit kommt man mit der LiveWire? Harley-Davidson gibt, je nach Einsatzbereich bzw. Fahrweise, eine Reichweite von 150 bis 235 Kilometer an, wir sind auf unserer Runde ca.130 Kilometer im sportlichen Tempo auf kurvenreichen Landstraßen unterwegs gewesen und am Ende zeigte das TFT-Farbdisplay immer noch einen respektablen Ladezustand von fast 25 Prozent an.
Laden zu Hause … … dauert …
Aufladen lässt sich der völlig leere Akku innerhalb einer Stunde, nach 40 Minuten sind bereits 80 Prozent der Kapazität erreicht. Allerdings benötigt man dafür eine DC-Fast-Charge-Ladestation, die nicht gerade an jeder Straßenecke zu finden ist, künftig aber auch bei allen Harley-Davidson-Händlern stehen soll, wo Käufer einer LiveWire in den ersten zwei Jahren sogar gratis Strom tanken. An einer normalen Haushalts-Steckdose dauert der Ladevorgang erheblich länger: Eine Stunde für gerade einmal 20 Kilometer Reichweite, daheim lässt sich die leer gefahrene Harley also am besten über Nacht vollständig aufladen.
TFT-Touchscreen und sieben Fahrmodi
Neben dem Akku-Ladezustand zeigt das 4,3-Zoll-Farbdisplay natürlich auch alle anderen relevanten Daten an und lässt sich neben dem „Joystick“ am rechten Lenker auch per Touchscreen steuern. Verbunden mit der Harley-Davidson-App wird es gar zur Mulitfunktionszentrale für Navigation oder Musik, können über das Smartphone jede Menge Funktionen abgerufen und gesteuert werden. Ob der Weg zur nächstgelegenen Schnellladestation, Diebstahlschutz mit Bewegungsmelder bzw. Ortungsfunktion oder natürlich die verschiedenen Fahrmodi.
Deren hat die LiveWire gleich sieben mit an Bord, die die Parameter „Power“ (Beschleunigung), Throttle Response„ (Gasannahme), “Traction Control„ (Traktionskontrolle) und “Regeneration„ (Motorbremswirkung im Schiebebetrieb) unterschiedlich kombinieren. Den meisten Fahrspaß bekommt man im Sport-Modus, wo stets die volle Leistung abrufbar ist, die Traktionskontrolle auf niedrigster Stufe arbeitet und die starke Rekuperation für maximale Motorbremswirkung sorgt. Im Road-Mode mit ausgewogener Fahrdynamik und intuitiven Regeleingriffen soll das Fahrverhalten einem herkömmlichen Motorrad mit Verbrennungsmotor am nächsten kommen, der Range-Modus ist auf maximale Reichweite ausgelegt und entsprechend zurückhaltender, im Rain-Modus sind Leistung und Beschleunigung eingeschränkt, greift die Traktionskontrolle in höchster “Alarmbereitschaft„ früh ein. Dazu stehen dem Fahrer noch drei individuell konfigurierbare Fahrmodi zur Verfügung, in denen man z.B. die Traktionskontrolle auch ganz wegschalten kann, so dass auch dem Wheelie-Spaß nichts mehr im Wege steht…
Fahrspaß großgeschrieben
Wobei Fahrspaß auf der LiveWire überhaupt großgeschrieben wird, sobald man akzeptiert, dass Vibrationen und satter Motorsound nicht zwingend zum Motorradfahren gehören, die linke Hand “abeitslos„ ist, weil nicht gekuppelt werden muss. Die Bremsen werden übrigens wie gewohnt mit der rechten Hand (vorne) bzw. dem rechtem Fuß (hinten) betätigt.
Trotz der explosiven Leistungsentfaltung bis zur elektronisch abgeregelten Höchstgeschwindigkeit von 180 km/h sind keinerlei Lastwechselreaktionen spürbar, das Fahrwerk liefert stets glasklare Rückmeldung, die Brembos fangen das Motorrad punktgenau ein, sobald der Anker geworfen werden muss.
Kritik gibt’s nur auf erstaunlich hohem Niveau bzw. kann zum Teil sogar als Kaufargument herhalten: Die harte, sportliche Werks-Einstellung mag nicht jedermanns Sache sein, dazu verlangt es doch nach einem kräftigeren Lenkimpuls, um das trotz einer offiziell ausgeglichenen Radlastverteilung von 51:49 leicht frontlastig wirkende Motorrad flott in die Kurve zu dirigieren. Und der serienmäßige Scorcher-Reifen von Michelin ist US-typisch auf hohe Laufleistung getrimmt - wir finden, dass der Stromschnelle ein sportlicher Pneu besser zu Gesicht bzw. den schicken Gussspeichen stehen würde.
Punkto Sound haben sich die Harley-Davidson-Ingenieure auch Mühe gegeben - hat durchaus etwas vom Geräusch eines Düsenjets, wenn sie so an einem vorbeizieht. Pfiffig auch die vielen schicken Design-Details des rundum hochwertig verarbeiteten Bikes, wie etwa die stilvoll verpackte “Steckdose„, wo bei herkömmlichen Motorrädern der Tankdeckel sitzt. Einzigartig ist das als “Herzschlag„ bezeichnete leichte Pulsieren des Motorrads im Stillstand bei eingeschaltetem Motor. Damit man daran erinnert wird, dass wirklich sofort die Post bei vollem Drehmoment abgeht, sobald man am “Gasgriff„ dreht.
Elektroklusivität hat ihren Preis
In der Wartung ist so ein Elektromotorrad günstiger als seine Verbrennungsmotor-Kollegen, gibt es doch weder Ölwechsel noch Zündkerzen, Luftfilter oder andere Verschleißteile. Dafür hat die Ex- bzw. Elektroklusivität noch ihren Preis, speziell wenn solch wegweisende Innovationen von einem Hersteller wie Harley-Davidson kommen: Immerhin 33.390 Euro sind dafür zu berappen, zur Auswahl stehen die beiden matt lackierten Farbgebungen “Orange Fuse„ und “Yellow Fuse„ sowie ein klassisch schwarz glänzendes “Vivid Black".
Wem von den alteingesessenen Harley-Fans der erste Elektroschock noch nicht genug ist - die LiveWire macht nur den Anfang, weitere E-Modelle werden folgen. Und auch sonst ist von der US-Kultmarke in nächster Zeit einiges an Neuigkeiten zu erwarten, will man doch schon 2020 mit einer großen Reiseenduro und einem sportlichen Naked-Bike neue, jüngere Käuferschichten erreichen. Man darf gespannt sein.
Wolfgang Haenlein
Warum?
Elektro-Vorreiter unter den Renommierten
Das ständig zur Verfügung stehende volle Drehmoment elektrisiert
Ein Trumpf-Ass beim Ampelstart und jeder Kurvenhatz
Warum nicht?
Beschränkte Reichweite
Eine Harley muss doch laut sein?!?
Oder vielleicht …
… ein günstigeres Elektromotorrad von Zero, die preislich vergleichbare, 145 PS starke Energica Eva oder KTM’s leichte Freeride-E für Großstadtdschungel und Enduro-Spielwiese
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