In seinem neuen Buch schreibt der Vorarlberger Gerichtspsychiater Reinhard Haller über die Verbrechen der Gegenwart. „Tötungsdelikte im engsten Umfeld“, sagt er im „Krone“-Interview, „haben stark zugenommen. Weil die Menschen narzisstischer - und kränkbarer - geworden sind.“
Ich habe lange Zeit im Gefängnis verbracht – wegen Mordes. Weit über ein Jahr war ich mit Personen, denen die Tötung anderer Menschen vorgeworfen wird, in engen Zellen eingeschlossen und habe ihre Geschichten gehört. Von Angesicht zu Angesicht haben mir Sexualmörder und Serienkiller, Terroristen, Räuber und Kinderschänder, alte NS-Verbrecher und junge Amokläufer von ihren Motiven und Gefühlszuständen, von der Beziehung zum Opfer und vom Tatablauf, von ihrer Lebensgeschichte und ihrer heutigen Sichtweise erzählt. In der nach einer Mischung aus Kernseife, Schweiß, Metall, Gulasch und Exkrementen riechenden Gefängnisluft hat sich zwischen Betroffenheit, Reue, Depression, Kälte, Lügen, Manipulationsversuchen und echter Bereitschaft zur Wahrheitsfindung allmählich die Kontur des Bösen entwickelt“, schreibt Reinhard Haller, der wohl bekannteste Gerichtspsychiater Österreichs, im Vorwort seines neuen Buchs. Titel: „Das Böse“.
„Das Gute und das Böse sind einander so nah“
Beim Interview mit der „Krone“ sitzt der gebürtige Mellauer (Bregenzerwald) im Arbeitszimmer seines hübschen Hauses in Vorarlberg, durch die Fenster sind Wiesen und Wälder zu sehen. Die Welt hier – eine friedliche; eine völlig andere als die, mit der er beruflich konfrontiert ist. Diese „Spaltung“ – Haller relativiert sie: „Das Gute und das Böse sind einander so nah“, sagt er, „denn wir alle haben negative Teile in uns.“ Nachsatz: „Und das wissen wir auch.“
Es sei bloß eine Frage der Umstände, ob „das Schlechte“ zutage trete. „Die Verhältnisse, unter welchen ein Mensch aufwächst, sind dabei von großer Bedeutung. Lässt ihm sein Umfeld zu, Empathiefähigkeit zu entwickeln, wird er später eher nicht danach trachten, anderen zu schaden. Aber unter gewissen Bedingungen, das glaube ich dennoch, kann jeder von uns sogar zum Töten fähig sein.“
„Gesellschaft hat sich stark verändert“
Was die Geschichte zeigt. Das dramatischste Beispiel dafür: Die Gräueltaten in der NS-Zeit. „Psychisch unauffällige Menschen wurden damals zu Bestien. Weil ihnen die Erlaubnis dazu gegeben wurde, weil ihre fürchterlichen Handlungen gesetzeskonform waren; weil sie deswegen meinten, das Richtige zu tun.“ Das Böse, es ist wandelbar. Darum hat Haller sein Buch – es erschien bereits 2009 – überarbeitet und nun in aktualisierter Form nochmals aufgelegt: „Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen zehn Jahren stark verändert, und damit auch die Art der Verbrechen.“
Familiendramen, Amokläufe, School-Shootings und scheinbar völlig motivlose Vergehen haben stark zugenommen.
„Gefühle zu zeigen gilt als unmodern, seltsam“
Warum? „Wir leben in einer Zeit, in der es chic ist, cool zu sein. Gefühle zu zeigen gilt als unmodern, als beinahe schon seltsam. Wir bewegen uns viel in virtuellen Welten, die Anerkennung, die wir dort durch ein paar Likes bekommen, erhöht unseren Narzissmus.“
Der Mensch von heute, wie ist er? „Traurig – und extrem kränkbar, aber er will das nicht zeigen. Und er ist in einem hohen Maße auf sich selbst konzentriert. Die Kommunikation kommt dadurch zum Erliegen – obwohl doch gerade das Miteinander-Reden so wichtig wäre, um Probleme zu lösen.“
„Der Austausch fehlt“
Die Folge? „Da der Austausch fehlt, werden Enttäuschungen und Rückschläge immens stark wahrgenommen, in Gedanken aufgebauscht; negative Empfindungen werden also aufgestaut – und irgendwann kommen sie zum Ausbruch.“ Im grauenhaftesten Fall – mit Tötungsdelikten. Wie am 6. Oktober – ein 25-Jähriger brachte da in Kitzbühel seine Ex-Freundin, einen Bekannten von ihr und ihre ganze Familie um. Weil er die Trennung von dem Mädchen nicht verkraften konnte.
„Niemand wollte ein Doppelzimmer mit ihm teilen“
Oder wie vor einigen Jahren, als ein junger Mann in seine frühere Schule ging und dort wahllos Jugendliche und Lehrer erschoss. „Der Täter“, so Haller, „nannte bei seiner Untersuchung einen absurd scheinenden Grund für das Massaker: Bei einer Klassenfahrt hatte einst niemand ein Doppelzimmer mit ihm teilen wollen.“ Ein Erlebnis, das den - ohnehin seelisch nicht besonders gefestigten - Burschen vollends zum Einzelgänger gemacht hatte.
Seine Aggressionen wurden daraufhin laufend größer und größer, zunächst gelang es ihm, sie bei Ego-Shooter-Spielen abzubauen. Aber mit dem Killen virtueller Figuren und der Tatsache, dass er dabei nie mit Folgen für sein Tun bestraft wurde, entwickelte sich in ihm auch die Idee, allmächtig zu sein - und Rache vollziehen zu dürfen.
„Ich sehe auch positive Veränderungen“
Es ist ein dunkles Bild, das der Gerichtspsychiater in seinem Buch vom Jetzt zeichnet. Sind wir alle wirklich zu leicht kränkbaren Narzissten – und damit gefährlich – geworden? „Ich sehe auch positive Veränderungen. Die neuesten Entwicklungen in unserer Gesellschaft geben Hoffnung auf das Gute. Das Kämpfen für den Klimaschutz etwa. Oder dass sich viele Menschen für Tiere einsetzen und deshalb kaum oder gar kein Fleisch mehr essen. Alle diese Bewegungen zeigen, dass wir wieder empathischer werden.“
Martina Prewein, Kronen Zeitung/krone.at
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