Vietnamesen berichten:
Schlepper bieten „Holz-“ oder „Businessklasse“ an
Im Kühlcontainer eines Lastwagens östlich von London waren vergangenen Mittwoch die Leichen von 31 Männern und acht Frauen entdeckt worden. Zumindest bei einem Großteil von ihnen dürfte es sich um Migranten aus Vietnam handeln. Für Vietnamesen, die sich auf die gefahrvolle Reise nach Europa machen wollen, gibt es eine entscheidende Frage: „Holz- oder Businessklasse“. Die Schlepper bieten nämlich verschiedene Varianten zu erheblich unterschiedlichen Preisen an, wie Experten, Migranten und ihre Angehörigen jetzt erzählten.
Angehörige in dem südostasiatischen Land bangen nun um das Leben ihrer Verwandten. „Wenn er die ,VIP-Route‘ genommen hat, dann gibt es eine einprozentige Chance, dass er erwischt wurde, das ist der sicherste und teuerste Weg“, sagte Nguyen Dinh Gia, der befürchtet, dass sein Sohn Nguyen Dinh Luong unter den 39 Toten ist. „Wenn er die Billigroute nahm, bin ich hundertprozentig sicher, dass er gestorben ist. Das Fahrzeug bei diesem Unfall - das ist die ,Holzklasse‘.“
Mit dem Auto nach Russland, zu Fuß weiter in die Ukraine oder nach Lettland
Diese Variante, die eine Reise aus Vietnam auf dem Landweg nach Europa bedeutet, beinhaltet anstrengende Monate geheimer Autofahrten und oft sogar die Bewältigung von Strecken zu Fuß. „Sie reisen oft von Vietnam nach China und dann weiter nach Russland“, schilderte Mimi Vu, eine unabhängige Anti-Schlepperei-Anwältin aus Ho-Chi-Minh-Stadt. „Das wird normalerweise per Auto gemacht, und dann gehen sie von Russland aus zu Fuß durch Wälder und über Berge in den Nachtstunden in eines der Nachbarländer wie die Ukraine oder Lettland.“
Die „Erste-Klasse-Schleppung“ hingegen beinhaltet typischerweise einen Flug von Vietnam nach Europa über ein Drittland mit ge- oder verfälschten Reisepässen. Das dauert Tage statt Monate, kostet aber viel mehr, erläuterte Mimi Vu. Das bestätigte auch Nguyen Dinh Gia aufgrund der Erfahrungen seines Sohnes: „Er sagte, wenn er die ,Economy-Route‘ nehme, würde es 3000 Britische Pfund (rund 3500 Euro) kosten, von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Mit der ,VIP-Route‘ kostet es 11.000 Pfund.“
Mehrere Migranten, ihre Familien und Experten nannten die 11.000 Pfund als den üblichen Tarif, um von Deutschland oder Frankreich nach Großbritannien geschmuggelt zu werden. „Luong sagte mir, er habe die ,VIP-Route‘ gewählt. Deshalb verstehe ich nicht, warum er auf diesem Weg unterwegs war“, schilderte Gia.
Letzte Etappe über Ärmelkanal in Lastwagencontainer
Möglicherweise gab es aber keine „Erste-Klasse-Route“ für Luongs Weg von Kontinentaleuropa über das Meer nach Großbritannien. Experten betonen, dass - wie immer die vietnamesischen Migranten nach Europa kommen - ein Transport in einem Lastwagencontainer der einzige Weg ist, den letzten Schritt über den Ärmelkanal zu machen. „Eltern zahlen für den ,VIP-Service‘, weil sie glauben, es ist sicherer. Aber was sie nicht wissen, ist, dass ihr Sohn oder ihre Tochter am Ende in demselben Lkw landet wie jemand, der für die billige Reise bezahlt hat“, erklärte Vu.
Luongs Vater Nguyen Dinh Gia erzählt, wie sein Sohn auf dem Billigweg im Oktober quer durch Asien bis Russland und weiter in die Ukraine gekommen war, wo er mit anderen Migranten sechs Monate in einem Lager lebte, und wie er ihn zu überreden versuchte, nicht weiterzureisen. „Er sagte, in Großbritannien gibt es mehr Spaß und es gebe dort eine Community“, sagte Gia.
„Mann kam mit Fahrzeug und nahm Geld an sich“
Die Reisen vietnamesischer Migranten sind meist in mehrere Etappen unterteilt. An deren jeweiligem Ende verlangen die Schlepper Geld von den Familien, bevor ihre Angehörigen die nächste Etappe in Angriff nehmen können. Als Luong von Frankreich nach Deutschland fuhr, wurden von seinem Vater 18.000 US-Dollar (rund 16.000 Euro) in bar für den bisherigen Trip verlangt. „Jemand rief mich an, ein Mann kam mit einem Fahrzeug und nahm das Geld an sich“, berichtete Gia. „Er war etwa 30 Jahre alt. Nachdem Luong angerufen und gesagt hatte, dass er sicher angekommen sei, war das für uns das Signal, das Geld bereitzuhalten.“
Als seine Reise nach Europa bezahlt war, trat Luong, nachdem er 18 Monate lang illegal in einem Restaurant in Frankreich gearbeitet hatte, die letzte Etappe nach Großbritannien an, trotz der Hoffnung seines Vaters. Spät am Donnerstagabend erhielt Gia einen Anruf von einem Kontakt in Übersee, der offenbar direkte Kenntnis von den Toten im Container hatte. „Ich hoffe, Sie verstehen“, zitierte Gia den Anrufer. „Das Fahrzeug hatte einen Unfall. Alle starben.“
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.