Brexit Nebensache?
Migration nun im Zentrum des britischen Wahlkampfs
Im anlaufenden britischen Parlamentswahlkampf wird der Brexit sukzessive von konkreten Fragen verdrängt - und bleibt doch Dreh- und Angelpunkt der politischen Debatte. Nachdem in der ersten Wahlkampfwoche heftig über einen Post-Brexit-Ausverkauf des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS an die USA gestritten wurde, rückt nun die Migrationsfrage auf der politischen Agenda nach oben.
Eine Regierung der oppositionellen Labour Party würde „unkontrollierte und unbegrenzte Immigration zulassen“, warnte Innenministerin Priti Patel am Wochenende. Anlass der Warnung war das Versprechen von Labours Wahlkampfchef Andrew Gywnne, im Fall eines Brexit mit den restlichen EU-Staaten bilaterale Abkommen auszuverhandeln, um die Personenfreizügigkeit zu gewährleisten.
„Diese Linie käme einer Selbstverstümmelung gleich“
Bei ihrem Parteitag im September verabschiedete die Oppositionspartei eine radikale Entschließung, die sogar eine Ausweitung der Personenfreizügigkeit sowie die Auflösung aller Flüchtlingslager verlangt. Wie die Tageszeitung „Guardian“ am Montag berichtete, sind einige Labour-Kandidaten besorgt, dass ihnen diese Linie bei der Wahl am 12. Dezember massiv schaden könnte. Wenn der Parteitagsantrag unverändert ins Wahlprogramm kommt, „käme das eine Selbstverstümmelung gleich“, zitierte die Zeitung einen Labour-Kandidaten.
Labour-Spitzenpolitiker bemühten sich vor diesem Hintergrund um Beruhigung. „Es ist noch keine endgültige Entscheidung getroffen worden“, sagte Schatten-Innenministerin Diane Abbott mit Blick auf diese Woche laufende Beratungen. Schatten-Außenministerin Emily Thornberry versicherte, dass es bei einem Brexit „faire Regeln und geordnete Migration“ geben werde. „Wir haben die Menschen gehört, die gesagt haben, dass einer der Gründe, warum sie für den Brexit gestimmt haben, das unbeschränkte Ausmaß an Migration gewesen ist“, sagte Thornberry.
„Öffnung des Arbeitsmarktes war ein Fehler“
Tatsächlich zählten nordenglische Labour-Hochburgen bei der Volksabstimmung im Juni 2016 zu den Gebieten mit den höchsten „Leave“-Stimmenanteilen. Viele traditionelle Labour-Wähler votierten aus Frust über den Zuzug von Hunderttausenden EU-Bürgern aus Osteuropa nach der großen Erweiterungsrunde im Jahr 2004 für den Austritt aus der Europäischen Union. Möglich wurde der Zuzug, weil die damalige Labour-Regierung unter Premierminister Tony Blair (1997-2007) anders als andere Mitgliedsstaaten wie Österreich auf Übergangsfristen für die Öffnung des Arbeitsmarktes verzichtet hatte. Blair musste später einräumen, das Ausmaß der Migration unterschätzt zu haben, der spätere Labour-Chef Ed Miliband (2010-2015) bezeichnete die Öffnung des Arbeitsmarktes gar als „Fehler“.
Labour hat sich selbst die Hände gebunden
Allerdings hat sich Labour in dieser Frage selbst die Hände gebunden. Parteichef Jeremy Corbyn hat klargemacht, dass er einen Brexit-Deal ausverhandeln will, der einen Verbleib des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt vorsieht. Am Binnenmarkt teilnehmen kann London aber nur, wenn es seine Grenzen für Arbeitsmigranten aus anderen EU-Staaten offenhält. Eine Alternative für jene Wähler, die die Grenzen schließen möchten, hat Labour nicht. Schließlich soll beim geplanten zweiten EU-Referendum nur die Wahl zwischen diesem softeren Brexit-Deal und der EU-Vollmitgliedschaft möglich sein.
Kommen Tories nun aus der Defensive?
Die aufflammende Migrationsfrage gibt den regierenden Tories die Chance, in Sachen Brexit aus der inhaltlichen Defensive zu kommen. Johnson und seine Vorgängerin Theresa May hatten sich nämlich in den vergangenen Monaten vor allem mit den Schattenseiten des EU-Austritts auseinandersetzen müssen - von Megastaus an den Grenzen bis zu leeren Supermarktregalen. Johnsons Versuch, einen Regierungsbericht zu den verheerenden Auswirkungen auf die Konjunkturentwicklung unter Verschluss zu halten, schlug fehl.
Labour-Chef Corbyn ging in diesem Zusammenhang noch einen Schritt weiter, indem er den Tories vorwarf, den Brexit sogar als Hebel für die Durchsetzung einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik missbrauchen zu wollen. Ein „Thatcherismus auf Drogen“ sei geplant, warnte Corbyn vor einer Aushebelung von Arbeitnehmer-, Umwelt- und Konsumentenschutzstandards. Vor allem sah er das staatliche Gesundheitssystem NHS gefährdet, das eine Heilige Kuh in Großbritannien ist.
Das von Johnson gewünschte Freihandelsabkommen mit den USA würde einer Privatisierung des Gesundheitsdienstes den Weg ebnen und explodierende Medikamentenpreise zur Folge haben, verwies Labour auf die Zustände auf der anderen Seite des Atlantiks. Zwar dementierte Johnson vehement, doch ist es um seine Glaubwürdigkeit nicht gerade zum besten bestellt, nachdem er in der Brexit-Kampagne ausgerechnet bei der Frage der Finanzierung des NHS die Unwahrheit gesagt hatte.
Konservative in Umfragen derzeit vorne
In den Umfragen haben die Konservativen einen deutlichen Vorsprung auf Labour und können Berechnungen von Experten zufolge mit einer satten absoluten Mehrheit von rund 350 der 650 Unterhaussitze rechnen. Der Ausgang der Wahl hängt aber laut Beobachtern zentral davon ab, welches der brennenden Themen in den restlichen vier Wahlkampfwochen die Oberhand bekommt.
Die Klimafrage wird mangels einer starken grünen Partei und angesichts des vorweihnachtlichen Wahltermins wohl eine untergeordnete Rolle spielen. Eine winterliche Grippewelle könnte das Scheinwerferlicht auf die Gangbetten in britischen Spitälern richten und eine für die seit neun Jahren regierenden Tories unangenehme sozialpolitische Debatte anfachen. Sollte sich das Migrationsthema im Vordergrund verankern, wird der Wahlkampf wohl zum Heimspiel für den Brexit-Vorkämpfer Johnson.
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