Die Weihnachtszeit kann bedrückend sein. Für Menschen, die um geliebte Angehörige trauern und sie gerade jetzt besonders vermissen. Bei Lydia P. ist dieser Schmerz unendlich groß. Ihr einziges Kind wurde 2018 ermordet.
Sie sind einfach überall, in dieser gemütlichen Wohnung im Salzburger Saalfelden; sie stehen in Regalen und Vitrinen, sie hängen an den Wänden. Bilder, so viele Bilder. Von einem hübschen, blondhaarigen Mädchen. Aus einer Zeit, in der es noch ganz klein war; bei der Taufe, in einer Schaukel, beim Spielen. Von später; in der Schule, bei der Erstkommunion, bei Familienausflügen. Und von zuletzt: Sie zeigen eine junge Frau; immer perfekt gestylt, immer lächelnd.
„Meine Tochter ist, sie bleibt bei mir“, sagt Lydia P. (43), und dicke Tränen laufen aus ihren Augen. Die Frau – sie will nicht fotografiert werden, „das hätte doch keinen Sinn“. Sinn ... „Für mich macht ohnehin gar nichts mehr Sinn.“ Seit dem 20. Oktober 2018. Als Irene, ihr einziges Kind, ermordet wurde.
Ein Bekannter hatte der 20-Jährigen damals in ihrem Wohnhaus in Zell am See aufgelauert und vier Kugeln auf sie abgefeuert. „Ich weiß von einer Nachbarin, wie grauenhaft die letzten Minuten vor ihrem Tod waren. Meine Tochter lag im Stiegenhaus, blutete stark, wimmerte: ,Ich spüre meine Beine nicht mehr.‘ Eine Szene, die ständig vor mir abläuft.“ Die kaum zu ertragen ist.
„Wir können die Täter nicht hassen“
Bei dem Prozess kürzlich gegen den Schützen (18) und seinen Komplizen (19) – dem möglichen Anstifter des Verbrechens – waren Lydia P. und ihr Mann nicht im Gerichtssaal: „Wir hätten es nicht geschafft, mit den beiden in einem Raum zu sein.“ Und nein, erklärt die Mutter, „wir können die Täter nicht hassen. Weil in uns einfach nur ein Gefühl Platz hat. Schmerz. Unendlicher Schmerz.“ Um Irene.
Frau P. – bitte erzählen Sie die Vorgeschichte des Dramas. „Sie ist lang – und ihr Ende unvorhersehbar gewesen.“ Denn Irene „war doch unser Sonnenschein“. Die Salzburgerin, sie wuchs in wohlbehüteten Verhältnissen auf. Der Vater – Kleinunternehmer; die Mutter – Angestellte in der Touristikbranche. „Meine Eltern lebten mit uns Tür an Tür, wir waren eine harmonische Großfamilie.“ In der das Mädchen „im Mittelpunkt stand“.
„Flüchtlinge taten ihr extrem leid“
„Und ja, wir hatten wundervolle Zeiten“, als Irene noch ein Kind war, „ein fröhliches, ein glückliches“; das brav lernte, unzählige Freundinnen hatte, Tiere liebte: „Sogar Insekten hat meine Tochter gerettet.“ Nach der Schule „begann sie eine Lehre in ihrem Traumberuf, Modeberaterin“. So gern habe sie sich nämlich toll gekleidet und geschminkt, „doch sie war nicht oberflächlich, im Gegenteil, sie hatte ein großes Herz. Für Menschen, denen es nicht so gut ging wie ihr. Vor allem Flüchtlinge taten ihr extrem leid.“
„Vielleicht“, so Lydia P., „war das auch der Grund dafür, warum sie sich mit 16 in Masoud (Name geändert) verliebte.“ Einen Türken, um ein Jahr älter als sie, mit einer problematischen Vita; ohne Job, ohne Ziele. „Wahrscheinlich dachte Irene, sie müsse ihm helfen.“ Und bemerkte dabei nicht, dass sie durch ihn in einen Abwärtsstrudel geriet. In dieser On-off-Beziehung, „die sie kaputt – und zu einer anderen Person machte“. Unzugänglich sei sie plötzlich gewesen, und unzuverlässig: „Schließlich verlor sie sogar ihre Stelle.“
„Belastender Kreislauf“
Die Eltern, der Opa – die Oma war bereits verstorben – versuchten Irene zurück, auf ihren „alten Weg“ zu bringen: „Es war ein Kampf gegen Windmühlen.“ Doch, es gab mitunter bessere Phasen, „wenn meine Tochter wieder einmal von ihrem Freund getrennt war“, dann hörte das Mädchen auf die Ratschläge seiner Familie – bis es sich wieder mit Masoud versöhnte. Ein „belastender Kreislauf“, der endlich ein Ende zu haben schien - „mit einem schockierenden Erlebnis“.
Im Mai 2018 - Irene lebte da bereits in der Wohnung in Zell am See - wurde sie im Garten ihrer Eltern festgenommen. Wegen des Verdachts des Missbrauchs und Handels mit Cannabis: „An diesem Tag erst wurde uns das volle Ausmaß ihres Absturzes klar.“ Zehn Tage verbrachte die junge Salzburgerin in der Folge in U-Haft, sie verriet in Verhören Kunden und andere Dealer - darunter auch jenen jungen Mann, der sie später erschossen hat.
Und nach dem Gefängnisaufenthalt? „Wirkte sie geläutert. Und sie versprach Besserung.“ Tatsächlich, sie nahm wieder eine Stelle an, und wirkte - meistens - „wie früher“.
„Mami, ich hab Dich lieb“
Den Abend des 20. Oktober 2018 hatte das Mädchen bei seiner Mutter verbracht: „Mein Mann war mit Kollegen unterwegs. Irene und ich aßen ihre Lieblingsspeise, Laugenbrezel und Hartwurst, sie trank Lattella dazu; wir plauderten, sahen fern.“ Kurz nach 20 Uhr meinte die 20-Jährige, sie hätte noch eine Verabredung mit einer Freundin: „Ich bat sie, zu bleiben.“ Vergeblich. Um etwa 20.30 Uhr bekam Lydia P. eine Whats-App-Nachricht von ihrer Tocher: „Mami, ich hab Dich lieb.“ Wenige Stunden danach - die Botschaft von Irenes Hinrichtung.
„Mein Leben“, sagt die 43-Jährige, „wurde dadurch für immer zerstört.“ Der Großvater verkraftete den Tod der Enkelin nicht, „er starb wenig später, an gebrochenem Herzen“. Lydia P.s Mann, ebenfalls seit der Tragödie „seelisch total am Boden“ - versucht, sich mit Arbeit abzulenken. Der Alltag des Paars ist geprägt von Trauer. „Wir möchten einander auffangen, doch das ist schwierig.“ Weihnachten sei eine besonders harte Zeit, „weil da die Erinnerungen noch stärker werden, an das Davor. Als wir mit Irene gefeiert und gesungen und gelacht haben.“
Mein Kind ist gestorben. Das wird für mich nicht verkraftbar sein, niemals.
Lydia P., Mutter von Irene
Die Zukunft? „Es gibt keine, für mich.“ Absurd sind die Prognosen einiger Menschen für sie, die ihr einbläuen wollen, mit den Jahren würde der Schmerz kleiner werden: „Mein Kind ist gestorben. Das wird für mich nicht verkraftbar sein, niemals.“ Nur ihre engsten Freunde und ihre Therapeuten verstehen das: „Dafür bin ich ihnen dankbar.“
„Ich träume jede Nacht von ihr“
Oft geht Lydia P. in ihren Keller, Kisten stehen dort, gefüllt mit Strampelanzügen, die ihre Tochter einst getragen hat, mit ihren Lieblingskleidern von später - und mit Briefen, die sie an die Mutter geschrieben hat. Aber Gedanken an Irene sind sowieso dauernd da: „Selbst wenn ich schlafe. Ich träume jede Nacht von ihr. Manchmal sind diese Träume schön, sie spricht mit mir, wir haben Spaß.“ Das Aufwachen sei dann „jedes Mal schrecklich“.
Frau P., gibt es irgendeinen Trost für Sie? „Mein Glaube, mein tiefer Glaube. Ich glaube fest daran, dass meine Tochter jetzt im Himmel ist - und ich weiß, dass meine Mama und mein Papa sich dort um sie kümmern.“
Die Wahnsinnstat von Zell am See
Vor wenigen Wochen wurde David S. (18) und Christian S. (19) - zum Tatzeitpunkt waren sie 17 und 18 - für das grauenhafte Verbrechen an Irene im Landesgericht Salzburg der Prozess gemacht. Ihr (noch nicht rechtskräftiges) Urteil: zehn beziehungsweise zwölf Jahre Haft - plus Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, auf unbestimmte Zeit. Die beiden Burschen gelten nämlich, laut Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter, als geistig hochgradig abnorm.
Fest steht: Sie waren im Besitz von Schusswaffen und Rohrbomben - und sie hatten vor, weitere Tötungsdelikte zu begehen. Sie wollten einen Amoklauf in einem Einkaufszentrum durchführen und einen Tiroler Autoverkäufer während einer Probefahrt mit einem Luxuswagen erdrosseln - ein Grab für den Mann war von ihnen bereits ausgehoben worden.
„Ich glaube“, sagt Irenes Mutter, „dass die Hinrichtung meiner Tochter - einem zarten, wehrlosen Mädchen - für die zwei Kriminellen bloß eine abscheuliche ,Übungsaktion‘ gewesen ist.“
Martina Prewein, Kronen Zeitung
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