Für Ruhm im Internet überschreiten viele „Selfie-Süchtige“ die Schmerzgrenze ihrer Mitmenschen.
Stellen Sie sich vor, sie verlassen Ihr Haus und stolpern regelrecht über ein paar Fremde, die auf Ihren Stufen sitzen. Die dort essen, posieren, an ihrem Zaun hängen und unentwegt Handyfotos schießen. Tag für Tag. So ergeht es den Bewohnern des Londoner Stadtteils Notting Hill.
Wie britische Medien berichten, leidet das romantische Szeneviertel an „Influenca“ - einer Invasion an fotowütigen Influencern, die sich stundenlang für das perfekte Bild auf fremden Treppen rekeln.
Was die Menschen von Notting Hill ärgert, verursacht in der französischen Provence ganz andere Probleme. Dort trampeln rücksichtslose Selfie-Jäger in den Lavendelfeldern herum, pflücken unerlaubt Pflanzen und ruinieren so die Ernte. Mit drastischen Maßnahmen wehrte sich Kalifornien: Es ließ den Ausflugsort Walker Canyon sperren, nachdem 50.000 Foto-Touristen binnen eines Wochenendes die blühenden Mohnfelder zerstört hatten.
Erstes Instagram-Reisebüro eröffnet
Der Anbieter L’tur machte aus der Gier nach dem perfekten Urlaubsfoto einen eigenen Geschäftszweig: Er eröffnete das erste Instagram-Reisebüro, das besonders fototauglichen Ausflüge vermittelt.
Apropos fototauglich: Zu den begehrten Instagram-Motiven Österreichs zählt der Campus der Wiener Wirtschaftsuniversität. Der futuristische Bau der Architektin Zaha Hadid zieht Influencer magisch an. Laut einer Sprecherin müsse man sich monatlich mit 50 Anfragen für Fotoshootings herumschlagen.
Erst in dieser Woche eskalierte die Situation: Wie die „Krone“ berichtete, wurden die ehemaligen „Austria’s Next Topmodel“-Kandidatinnen Julia Chavanne und Verena Gamlich von Securitys vom Campus gebracht, nachdem sie den Studienbetrieb mit einem Fotomarathon gestört hatten.
DariaDaria: Die Mutter Teresa der sozialen Medien
Vom It-Girl zum Öko-Vorbild: Die 31-jährige Wienerin DariaDaria nutzt ihren Einfluss als Influencerin, um Gutes zu bewirken. Hippe Markenkleidung, Schönheitstipps, Sponsoring durch große Firmen - ihre Zeit als Lifestyle-Bloggerin hat Madeleine Alizadeh hinter sich gelassen.
Stattdessen setzt sich die Wienerin mit iranischen Wurzeln unter dem Namen „DariaDaria“ für fair produzierte Mode ein, lebt vegan und verreist mit dem Zug. Im Februar 2019 besuchte sie gemeinsam mit der Caritas und der „Krone“ die Pufferzone in der Ukraine, um auf die verheerende Situation von Kriegsflüchtlingen aufmerksam zu machen.
250.000 Menschen verfolgen ihren Blog - das macht sie zu einem der beliebtesten Influencer Österreichs. Mit ihrem sozialen Engagement hat sich die 31-Jährige auch in Deutschland einen Namen gemacht. Der SWR2 bezeichnete sie in einem Bericht als „Mutter Theresa des Internets“.
Interview mit Tristan Horx: „Influencer zahlen seelischen Preis“
Warum Influencer (k)ein Traumjob ist und die Berufsgruppe ein Image-Problem hat - die „Krone“ sprach mit Trendforscher Tristan Horx über die „Könige“ des Internets. Er schreibt ab Montag wöchentlich als Kolumnist für die „Krone“.
„Krone“: Ab wann darf man sich Influencer nennen?
Tristan Horx: Das ist Definitionssache, aber ich würde sagen, wahrscheinlich ab 10.000 Followern.
Sind Influencer ein Gernerationen-Phänomen?
Absolut. Werbung war fürs Fernsehen, damit sind die älteren Generationen aufgewachsen. Influencer sind die neue Werbeerscheinung der digitalen Welt, ihr Zielpublikum sind die Generationen Y und Z - also alle ab 1981 Geborenen.
Mit 26 gehören Sie selbst einer jungen Generation an. Hand aufs Herz: Würden Sie sagen, dass Influencer ein Traumjob ist?
Für mich persönlich - nein. Aber es ist immer die Frage, was man will. Es gibt Menschen, die sich für Inszenierung interessieren. Der Grund, warum Leute es als Traumjob sehen ist, weil sie denken, er sei extrem einfach. Aber dieses Leben ist mit einem seelischen Preis verbunden. Blogger verkörpern ein Ideal, das wir niemals erreichen können. Und: Je schöner man sein Leben nach außen präsentiert, desto deprimierter ist man meistens nach innen.
Welche Themen funktionieren in sozialen Medien?
Alles, was mit einem Lifestyle zu tun hat und stark visuell getrieben ist. Bücher auf Instagram zu bewerben ist viel schwieriger als ein schönes Kleid.
Das Image der Influencer war schon einmal besser.
Der Begriff Influencer ist dankbar, weil er so ähnlich wie die Krankheit „Influenza“ klingt. Nicht umsonst wird das Wort in unserem Sprachgebrauch - egal, ob von Jungen oder Alten - oft hämisch oder verachtend verwendet.
Trotzdem gibt es noch immer Internet-Stars, die mit ihrer Inszenierung Millionen Euro verdienen
Grundsätzlich war das Prinzip der Influencer ja eine super Sache - unabhängige Testimonials, mit denen wir uns identifizieren können, die Produkte ausprobieren und uns ihre ehrliche Meinung sagen. Als Gegenpol zur Werbeindustrie. Aber mittlerweile hat diese Gruppe ein Glaubwürdigkeitsproblem. Eben weil ihre Meinung erst recht wieder von den Firmen gekauft wird. Umkehrschluss: Dann kann ich ja gleich klassische Werbung schauen.
Haben Influencer eine „Überlebenschance“?
Die Entwicklung zeigt: Wir haben die Inszenierung satt. Aber es gäbe eine Chance: Wenn Influencer es schaffen, eine Verbindung von Moral und Ethik herzustellen. Die Weiterentwicklung würde ich dann Sinnfluencer bezeichnen - also Influencer mit Sinn.
Alexandra Halouska, Kronen Zeitung
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