Experten alarmiert:
Emigrationswelle gefährdet Demokratie in Osteuropa
Experten sehen durch die massive Abwanderung aus Mittelost- und Südosteuropa die Demokratie in den betroffenen Staaten gefährdet. „Die Bevölkerungsimplosion, verbunden mit einer zunehmenden Emigration, schafft eine Situation, in der die Regierungen darüber entscheiden, welche Art von Volk sie haben wollen“, sagte der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev am Montag bei einem Seminar in Wien. „Man muss die Leute nicht mehr nach Sibirien schicken, es reicht, die Grenzen zu öffnen“, meinte er sarkastisch.
Die Auswanderung bewirke eine massive demografische Schieflage, weil hauptsächlich junge Menschen emigrierten. Dies könnte dazu führen, dass in den Staaten der Region die dezimierte jüngere Generation von Ruheständlern überstimmt werde. „Schon in 20, 30 Jahren“ könnte eine Situation wie im 19. Jahrhundert „mit einer Mehrheit der Wähler jenseits des Erwerbsalters“ entstehen, sagte Krastev in Anspielung auf das damals nur Vermögenden vorbehaltene Wahlrecht.
Der Forscher am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), einem gemeinnützigen Verein mit Sitz in Wien, der Studien auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften fördert und betreibt, verglich die Situation mit jener vor dem Bau der Berliner Mauer, mit der die kommunistische DDR die Abwanderung ihrer Leistungsträger in den Westen stoppen wollte.
Bevölkerungsprognosen lassen Alarmglocken schrillen
Bei dem Seminar im Presseclub Concordia präsentierte der Analyst der britischen Wochenzeitung „The Economist“, Tim Judah, alarmierende Bevölkerungsprognosen für die mittelost- und südosteuropäischen Staaten. Mit Ausnahme Österreichs und Sloweniens werde die Bevölkerung bis zum Jahr 2050 in allen Staaten schrumpfen, sagte er unter Berufung auf Berechnungen der Weltbank.
Bulgarien werde um 39 Prozent weniger Einwohner haben als im Jahr 1989, Rumänien um 30 Prozent, gefolgt von Bosnien-Herzegowina (-29 Prozent), Serbien (-24 Prozent), Kroatien (-22 Prozent), Ungarn (-20 Prozent), Albanien (-18 Prozent), Polen (-14 Prozent) und dem Kosovo (-11 Prozent). Vergleichsweise moderate Einbußen zwischen zwei und sechs Prozent seien für Griechenland, Tschechien, Nordmazedonien, Montenegro und die Slowakei zu erwarten.
Auch Judah zog einen Vergleich zum 19. Jahrhundert, als es eine starke Abwanderung vom Land in die Städte gab. „Im heutigen Europa sind diese Staaten die Dörfer und die westeuropäischen Staaten die großen Städte“, sagte er. Der Unterschied zur damaligen Zeit sei aber, dass diese Entwicklung nicht durch eine hohe Geburtenrate in den Abwanderungsgebieten abgefedert werde. „Die Folge ist die Entvölkerung ländlicher Gebiete.“
Seit 2000 zwölf Prozent der Polen ausgewandert
Andras Kovats von der ungarischen Migrationsorganisation Menedek berichtete, dass in den Visegrad-Staaten - Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn - die Auswanderung seit der Jahrtausendwende massiv angestiegen sei. 4,4 Millionen Polen hätten ihr Land verlassen, was 11,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entspreche. Es folgen Tschechien (8,5 Prozent), Ungarn (6,5 Prozent) und die Slowakei (6,3 Prozent).
Die bosnische Migrationsexpertin Alida Vracic sagte, dass bereits die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung ihres Landes im Ausland lebe. Im ganzen Land schössen Organisationen, die Sprachkurse, Trainings und Zertifikate für Auswanderungswillige anbieten, „wie die Pilze aus dem Boden“. Hunderte Ärzte gingen in die EU-Staaten, insbesondere nach Deutschland, sagte die Gründerin der Denkfabrik Populari. Ausländische Konzernmütter würden qualifizierte Mitarbeiter ihrer bosnischen Töchter abwerben.
Die Abwanderung habe aber nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern sei auch politischem Klientelismus und niedriger Lebensqualität geschuldet. So hätten bosnische Städte die schlechteste Luftqualität der Welt, sagte Vracic. Die Luft Sarajevos etwa sei viel stärker verschmutzt als jene Pekings.
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