Im Internet brodelt es
Märtyrer-Arzt Li entfesselt die Wut der Chinesen
Jeder Chinese weiß: Wer im Reich der Mitte unverblümt seine Meinung sagt, lebt gefährlich. Inmitten der Corona-Epidemie verlieren nun aber auch die sonst auf Zurückhaltung bedachten Chinesen die Fassung. In den Online-Netzwerken wächst nach dem Tod des Arztes Li Wenliang, der als einer der Ersten vor dem neuartigen Virus warnte und von Peking prompt mundtot gemacht wurde, die Wut auf die Regierung. Die staatliche Zensur stößt an ihre Grenzen, die Rufe nach Freiheit werden lauter.
In zwei offenen Briefen, die über den Internetdienst Weibo - das chinesische Twitter - verbreitet wurden, forderten Aktivisten endlich Meinungsfreiheit von der Führung in Peking. Hunderte Millionen haben sich den Unmutsbekundungen im Netz angeschlossen.
Professoren aus Wuhan fordern Entschuldigung
Ein Brief wurde von zehn Professoren aus Wuhan veröffentlicht. Sie betonten, der Einsatz des mittlerweile selbst am Coronavirus gestorbenen Augenarztes Li Wenliang habe den „Interessen des Landes und der Gesellschaft“ gedient. Sie forderten die Regierung dazu auf, die Meinungsfreiheit nicht länger zu unterbinden und sich öffentlich für ihr Vorgehen gegen Li und sieben weitere Ärzte nach Bekanntwerden des Virus zu entschuldigen. Die staatliche Zensur entfernte den Brief mittlerweile aus Weibo.
Pekinger Intellektuelle werfen Regierung Eigennutz vor
Der zweite Brief wurde am Freitag von ehemaligen Studenten der bekannten Tsinghua-Universität in Peking veröffentlicht. Die anonymen Autoren forderten die Regierung auf, die in der Verfassung garantierten Rechte der Chinesen zu sichern. Sie sprachen sich dagegen aus, „politische Sicherheit“ zur obersten Priorität zu erklären. Dies sei ein „extrem eigennütziges Ziel einer kleinen Organisation“, kritisierten sie.
Arzt entdeckte neuen Virus - und wurde verhaftet
Der verstorbene Arzt Li wurde nur 34 Jahre alt. Laut seiner Schilderung hatte die Polizei versucht, ihn mundtot zu machen, nachdem er Ende Dezember Kollegen vor dem neuartigen Virus gewarnt hatte. In Festlandchina sind nach Angaben der Behörden bereits rund 37.200 Menschen an dem neuartigen Coronavirus erkrankt. 811 Infizierte starben. Von China aus hat sich der Erreger in mehr als zwei Dutzend weitere Länder ausgebreitet.
Diese Zeichnung über den Corona-Arzt Li Wenliang ist der millionenfache Aufreger in den sozialen Medien Chinas. Die Botschaft ist eindeutig: Freiheit!
Mundschutz aus Stacheldraht - Kommentar von „Krone“-Außenpolitik-Experte Kurt Seinitz:
400 Millionen Postings zum Tod des Arztes Li Wenliang, der das Coronavirus frühzeitig entdeckt hatte, aber von den Behörden zum Schweigen gebracht wurde: Eine solche Internet-Revolte hat das KP-Regime in China noch nicht erlebt. Das Heer der Zensurpolizei kommt mit dem Löschen nicht mehr nach. Die Bevölkerung ist aufgebracht und muckt auf wie selten zuvor. Der Schatten Hongkongs liegt über China. Unter dem gezeichneten Bild des Li Wenliang mit einem Mundschutz aus Stacheldraht werden Forderungen erhoben, die alle von der chinesischen KP-Verfassung „garantiert“ werden: Pressefreiheit, Redefreiheit etc.
Für die Führung in Peking ist der Tod des Li Wenliang eine politische Katastrophe. Die Verantwortung trifft Staatschef Xi Jinping, der alle Macht in seiner Hand konzentriert hat. Die Folge: Das überzentralisierte autoritäre System hat sich unter der plötzlichen Herausforderung selbst gelähmt. Bisher galt für die KP-Herrschaft: Solange sich jeder Chinese ausrechnen kann, dass es ihm in Folgejahren (noch) besser geht als in den letzten Jahren, ist das System nicht in Gefahr.
Diese Virus-Seuche - nicht die erste - und die Versäumnisse des drückenden Apparates sind eine Zäsur für die Zeit vor und nach Li Wenliang. Gewiss wird Peking die Lage wieder unter Kontrolle bringen, aber es ist ein Teufelskreis: Es wird jetzt noch mehr Druck, noch mehr Zensur nötig sein.
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