109 Buben soll ein Urologe aus Oberösterreich in den vergangenen zwei Jahrzehnten sexuell missbraucht haben. Wie konnte es geschehen, dass seine Taten so lange unentdeckt blieben? Die „Krone“ sprach mit ehemaligen Freunden des Beschuldigten.
Selbst nach mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft scheint sein Selbstbewusstsein ungebrochen. Wenn Karl S. (Name geändert) von Mitinsassen auf die ihm angelasteten Verbrechen angesprochen wird, bleibt er gelassen und sagt mit ruhiger Stimme: „Das alles ist nur eine absurde Intrige gegen mich.“ Das alles ...
109 Opfer offiziell bekannt
Die Anklageschrift gegen den 57-Jährigen, die den wahrscheinlich größten Missbrauchsfall, der jemals in Österreichs geschehen ist, dokumentiert: An 109 Buben soll sich der Urologe vergangen haben. Im Salzkammergut. In seiner Praxis in Gmunden, in seinem Haus am Attersee, in seiner Wohnung in Vöcklabruck, in seiner Villa in Ägypten.
Und vielleicht woanders auch noch. Denn seine tatsächliche Opferzahl dürfte um einiges höher sein, ahnen die Ermittler. Weil es junge Männer gibt, die zwar erzählen, ihnen seien „ebenfalls unangenehme Dinge zugestoßen“, im Kontakt mit dem Mediziner; die aber über das Geschehene nichts Genaues berichten, es bloß vergessen wollen. Also weiter schweigen. Zu diesem unfassbaren Sittendrama.
Er galt als nett - und hilfsbereit
Wie war es möglich, dass der Oberösterreicher über - zumindest - zwei Jahrzehnte hinweg seine perversen Neigungen ausleben konnte, ohne unter Verdacht zu geraten? Um das zu verstehen, müsse man den Beschuldigten - er stammt aus einer angesehenen Unternehmerfamilie - kennen, meinen ehemalige Freunde von ihm: „Keiner von uns hätte ihm etwas Böses zugetraut.“ Weil er ja immer „nett und bescheiden“ gewirkt habe.
Die Lebensgeschichte des Mannes: Nach der Matura trat er nicht in die Firma der Eltern ein, sondern studierte Medizin, „um später Menschen zu helfen“, wie er damals behauptete. Und nach Abschluss seiner Ausbildung „ging er auch wirklich nach Südafrika und arbeitete dort ehrenamtlich in einem Spital“.
2000, nach seiner Rückkehr in die Heimat, eröffnete er eine Privatpraxis in Gmunden. Ordinierte zweimal wöchentlich - und gab sonst den „Freigeist“, den verständnisvollen, umgänglichen Kumpel, der in seiner Freizeit gerne kochte, viel in der Welt herumreiste, belesen und ein Weinkenner war „und mit Jugendlichen gut auskam“. Bei einem - bloß den Reichen zugänglichen - Verein engagierte er sich in der Ausbildung des Nachwuchses; in mehreren Schulen gab er Sexualaufklärungsunterricht.
Auf Schultafeln schrieb er seine Handynummer
Vor allem die Buben mochten ihn und vertrauten ihm. Weil er ihre Sprache verwendete. Und seine Handynummer auf die Tafeln schrieb, für den Fall, dass sie unter vier Augen mit ihm über ihre Probleme plaudern wollten. Damit hatte er sie alle: die Kinder seiner, meist betuchten, Bekannten - bis hin zu Jugendlichen aus zerrütteten Familien.
Er unternahm an ihnen Penisvermessungen, anale „Untersuchungen“; er „lehrte“ sie das Masturbieren, küsste sie an intimen Stellen, um sie - wie er ihnen vermittelte - zu „echten Männern“ zu machen. Bevor er sie zum Essen einlud oder ihnen 50-Euro-Scheine schenkte.
„Ich habe nichts dabei gefunden, ihm per WhatsApp Fotos vom meinem Geschlechtsteil zu schicken“, berichten mehrere Burschen. Unzählige - derartige - Chats wurden letztlich auf dem Mobiltelefon von Karl S. gefunden, nachdem er im Jänner 2019 von der Mutter eines betroffenen Buben angezeigt worden war. Und in der Folge von laufend mehr Geschädigten.
Abermals bleibt die Frage: Wieso wurde der Urologe erst so spät überführt? „Er war eben beliebt“, sagt der Vöcklabrucker Anwalt Franz Hofmann, der 13 mutmaßliche Opfer vertritt: „Ich selbst bin bis zum Auffliegen seiner schrecklichen Handlungen mit ihm befreundet gewesen. Ich hielt ihn für harmlos.“
Wie so viele Männer und Frauen, die ihre Kinder in Karl S.’ Praxis brachten und im Warteraum saßen, während der „Herr Doktor“ - der für jedes Wehwehchen unaufgeregte Erklärungen fand, Kamillenteebäder und Salben verordnete - im Nebenzimmer ihre Kleinen missbrauchte. Nein, für pädophil, betonen die Eltern der Opfer, hätten sie den Mediziner „nicht gehalten, niemals“.
Der Urologe - er spielte den „ewigen Single“. Irgendwann hatte er einmal eine kurze Beziehung mit einer Gynäkologin, danach zu keiner Frau mehr. Deshalb wurde - seit Jahren bereits - getuschelt, er fände sich vielleicht zu Männern hingezogen und würde sich in seinem konservativen Umfeld seine Neigungen nicht zu zeigen getrauen.
Gerichtspsychiater hält ihn für brandgefährlich
„Ich bin bisexuell“, erzählte Karl S. nun Gerichtspsychiater Peter Hofmann, und: „Ich bevorzuge jüngere Partner, jedoch sicherlich nicht Minderjährige.“ Der Gutachter hat den 57-Jährigen als „Kernpädophilen“ und schwer persönlichkeitsgestört diagnostiziert. Und als brandgefährlich: Weitere - einschlägige - Straftaten seien von ihm zu erwarten.
Ende März wird der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter stattfinden, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Anonymität seiner Opfer soll gewahrt bleiben.
Zumindest drei von ihnen haben - laut Urteil des Sachverständigen - schwere seelische Schäden durch den Missbrauch erlitten. Sind unfähig, Partnerschaften einzugehen. Leiden an Albträumen. Haben Schwierigkeiten, sich im Beruf oder auf ihr Studium zu konzentrieren. „Sie wollen doch nur mein Vermögen“, behauptet Karl S. - und dass sich bei seiner Verhandlung seine Schuldlosigkeit erweisen werde: „Denn ich habe stets nur Gutes getan.“
Dem 57-Jährigen drohen 15 Jahre Haft und die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Für unbestimmte Zeit.
Martina Prewein, Kronen Zeitung/krone.at
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