„Great Nation“ wackelt
Corona und die Stunde der Wahrheit für die USA
Leichen auf Gabelstaplern, Massengräber in ausgebaggerten Gruben: Wie konnte es in den USA nur so weit kommen? Die Corona-Pandemie legt Schwächen der USA offen, die sonst überstrahlt werden von Lobpreisungen des Landes als globaler Kraftprotz. Das bleibt nicht ohne Folgen. Donald Trump bezeichnet die USA gerne als das „großartigste Land“ der Welt. Die größte, tollste, beste Nation mit der stärksten Wirtschaft, militärischer Übermacht, den smartesten Köpfen und Überlegenheit in eigentlich jedem Bereich. Der US-Präsident hat generell einen Hang zu Superlativen. Aber auch andere Amerikaner neigen mitunter zu Überschwang, wenn es um das eigene Land geht. Die Corona-Pandemie legt jedoch mehr denn je Defizite im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ brutal offen.
Millionen ohne Krankenversicherung: Ein beachtlicher Teil der US-Gesellschaft ist nicht krankenversichert. Laut eines Zensus im November hatten 2018 etwa 27,5 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung – 8,5 Prozent der Bevölkerung. Viele von den Millionen, die durch die Corona-Krise in den vergangenen Wochen ihren Job verloren haben, kommen nun noch hinzu, weil sie damit auch ihre Krankenversicherung verlieren.
In einem Gesundheitsnotstand wie diesem wiegt das besonders schwer: Wer nicht versichert ist, scheut wegen der Kosten eher davor zurück, zum Arzt zu gehen, sich testen und behandeln zu lassen. Das erleichtert eine Ausbreitung des Virus. Die US-Regierung will einspringen und hat zugesagt, niemand müsse sich um die Kosten für Corona-Tests und -Behandlungen sorgen. Details sind aber unklar.
Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis leben in Angst: Schätzungen zufolge gibt es in den USA bis zu zwölf Millionen Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis. Angesichts der harten Migrationspolitik unter Trump leben viele in Dauerangst vor einer Abschiebung. In der aktuellen Krise schrecken laut Hilfsorganisationen manche davor zurück, eine Ansteckung zu melden oder sich medizinische Hilfe zu suchen – ebenso wie die „Untergrund-Chinesen“ in Italien. Offen bleibt auch, ob der Staat für Unversicherte ohne Papiere ebenfalls Corona-Kosten übernehmen wird.
Ein krankes Gesundheitssystem: In den USA sind die Gesundheitskosten höher als in vielen anderen Ländern der Welt. Einfache Arztbesuche kosten schnell Hunderte Dollar, Krankenhausbesuche astronomische Beträge, und Medikamente sind teils um ein Vielfaches teurer als anderswo. Eine Behandlung wegen des Coronavirus selbst zu zahlen, womöglich mit einem längeren Krankenhausaufenthalt, kann Menschen ohne Rücklagen in ein finanzielles Desaster stürzen.
Das US-Gesundheitssystem scheint für die Pandemie auch nicht optimal gerüstet: Bei der Zahl der Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner liegen die USA weit abgeschlagen hinter den meisten OECD-Staaten. In der aktuellen Krise werden daher an besonders betroffenen Orten eilig provisorische Krankenhäuser eingerichtet – allen voran in New York. In der größten Volkswirtschaft der Welt mangelt es auch dramatisch an Beatmungsgeräten oder einfacher medizinischer Ausrüstung wie Schutzmasken für Krankenhauspersonal.
Leben von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck: Die US-Notenbank berichtete im vergangenen Mai, etwa 40 Prozent der Amerikaner könnten eine unerwartete Ausgabe in Höhe von 400 Dollar (knapp 350 Euro) entweder überhaupt nicht stemmen oder müssten sich dafür Geld leihen oder gar Besitz verkaufen. Das heißt, eine kaputte Waschmaschine oder ein Schaden am Auto stellen viele Amerikaner schon in normalen Zeiten vor große finanzielle Probleme. In der Corona-Krise, die viele Arbeitsplätze dahinrafft, verschärft sich das Problem, weil vielen schlicht die Ersparnisse fehlen, um Gehaltsausfälle zu überbrücken.
Schlechte soziale Absicherung: Durch die Corona-Krise verloren dazu allein in den vergangenen drei Wochen mehr als 22 Millionen Menschen in den USA ihren Job. Ein anderes Problem: In vielen Jobs bekommen die Menschen kein Gehalt, wenn sie krank zu Hause bleiben. Sie können es sich nicht leisten – wie von der Regierung empfohlen – schon bei milden Symptomen im Bett zu bleiben. Stattdessen gehen sie im Zweifel arbeiten und tragen so zur weiteren Ausbreitung des Virus bei.
Soziale Ungleichheit: Die Krise wirft auch ein Schlaglicht auf die Benachteiligung bestimmter Gruppen in der Gesellschaft: Nach Angaben der US-Regierung sind die Afroamerikaner von der Epidemie überproportional betroffen. Der Hintergrund: Probleme wie Herzkrankheiten, Diabetes oder Übergewicht seien bei ihnen häufiger als bei anderen Gruppen – und solche Vorerkrankungen beförderten schwere Verläufe.
Hungrig ohne Schulessen: Nach einer Aufstellung des US-Agrarministeriums lebten 2018 rund sechs Millionen Kinder in den Vereinigten Staaten in Haushalten, die nicht immer ausreichend Essen für alle Familienmitglieder zur Verfügung haben. Viele Kinder sind auf eine Mahlzeit in der Schule angewiesen. Dass Schulen durch die Krise wochen- oder zum Teil monatelang geschlossen bleiben, bringt sie in echte Schwierigkeiten.
Dass die Infrastruktur in den USA zerbröselt und das öffentliche Leben nur noch hart am Limit läuft, konnte schon bisher jeder Besucher erleben. New Yorks U-Bahn-System ist öffentliche Armut auf Rädern unterhalb von Milliardärsluxus. Aber dass ein Staat wegen eines Virus derart aus den Fugen gerät – das öffnet Augen.
So werden USA von China ausmanövriert
Die USA, viermal kleiner als China, verzeichnen siebenmal mehr Infizierte und Corona-Tote. China gebar die Seuche, Amerika hat es voll erwischt. Das war in dem Wettlauf der Systeme eigentlich nicht vorgesehen. Peking nützt die Gunst der Stunde für eine strategische Offensive erstmals auch mit „Soft-Power“: Eine Geschenkwelle sondergleichen zum Kampf gegen Corona überrollt die Welt – begleitet von einer exzessiven Propaganda-Inszenierung bei den Transporten. China setzte schon bisher alles daran, das Bild eines besser funktionierenden Amerikas darzustellen: mit 36.000 Kilometern für Hochgeschwindigkeitszüge, Super-U-Bahnen, Mega-Flugplätzen – und demnächst mit dem chinesischen Konkurrenz-Jet zu dem angezählten Boeing-Riesen.
Allerdings: Der US-Kapitalismus kann auch anders, und er hat sich immer wieder gehäutet. Das System des Kapitalismus ist nicht umzubringen, weil er dem menschlichen Wesen am nächsten kommt und bisher durch nichts Besseres ersetzt wurde. Der US-Kapitalismus ist keine Ersatz-Kirche mit Erlösungscharakter wie der Kommunismus und ist daher auch gänzlich moralfrei. Diese Seuche steckt er weg wie nichts, da er sie nur als Darwinsche Reinigungskrise betrachtet. Danach wird die Macht von Hightech alle Grenzen sprengen, weil Teleworking zum Durchbruch gekommen ist. Fazit: Super-Profite für Silicon Valley und noch mehr Druck auf den Niedriglohnsektor. Den Kapitalismus zu bändigen obliegt der Politik.
Kurt Seinitz, Kronen Zeitung
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