Er sitzt in der Corona-Taskforce der Regierung und hat Österreichs größtes Spital auf die Pandemie vorbereitet: Mit Conny Bischofberger spricht Prof. Markus Müller, Rektor der MedUni Wien, über Risikomanagement, Maskenpflicht und einen scheinheiligen Diskurs.
War Angst der Motor der erfolgreichen Bekämpfung des Covid-19-Virus? Diese Frage spaltet momentan das Land. Einer, der bei den Experten-Runden dabei war, ist der Mediziner Professor Markus Müller. Im Gebäude auf dem Campus des AKH gilt Maskenpflicht, bei der Begrüßung trägt der Rektor der MedUni Wien ein blaukariertes Modell aus Stoff, das er für unser Interview später abnimmt und neben die Kaffeetasse legt. Zwischen uns bleibt ein Sessel frei, da könnten eher zwei Babyelefanten Platz nehmen. Müller sitzt zwischen drei Prachenskys und einem goldgerahmten Porträt des Anatomen und Klimt-Freundes Emil Zuckerkandl, am antiken Biedermeier-Schrank hängt sein Ärztekittel. „Die Muster auf dem Morgenmantel der Danae sehen zwar wie Jugendstil-Ornamente aus, in Wirklichkeit hatte Klimt sich dafür aber die Zellen unter Zuckerkandls Mikroskop zum Vorbild genommen“, erzählt Müller. Die Fenster in den Hof mit der Bronze-Statue von Sigmund Freud sind geöffnet, man hört die Vögel laut zwitschern.
„Krone“: Herr Professor, haben Sie die Corona-App auf Ihr iPhone geladen?
Markus Müller: Ja, habe ich! Aus spielerischem Interesse, als nützliches Instrument. Ich verstehe aber auch die datenrechtlichen Bedenken, ich bin aber kein IT-Experte. Letztlich ist daraus eine politische Debatte geworden.
Sie sind Mitglied der sogenannten Corona-Taskforce, die in den letzten Wochen über unser Leben bestimmt hat. Wie muss man sich das vorstellen? Sitzen da alle in einem sogenannten „Situation Room“ des Bundeskanzleramtes und beraten, wie man das Virus Schachmatt setzen könnte?
(lacht) Also es hieß ursprünglich Beirat, jetzt Beraterstab. Dieser Beirat ist im Gesundheitsministerium angesiedelt. Da es in Österreich kein Robert Koch-Institut und kein ECDC - Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten - gibt, und auch die Generaldirektion für öffentliche Gesundheit abgeschafft wurde, kam von der Übergangsregierung, die ja sehr kurz im Amt war, der Ruf nach einer Beratung durch Experten. Die damalige Gesundheitsministerin (Brigitte) Zarfl hat mich angerufen und ich habe ihr einen Vorschlag von sechs Leuten gemacht. Diese Runde hat sich am 28. Februar das erste Mal getroffen. Mittlerweile ist sie auf 27 Köpfe angestiegen. Aber getroffen haben wir einander nur vier Mal physisch, dann waren es Videokonferenzen.
In einer der Sitzungen soll der Bundeskanzler gesagt haben, man müsse der Bevölkerung Angst machen, damit sie die Maßnahmen ernst nimmt. Sie haben Sebastian Kurz bereits verteidigt. Warum kann man das nicht einfach zugeben?
Wenn so viele Leute um einen Tisch herumsitzen, kommt es offenbar zu mehreren Leaks. Ich würde sagen, es ist ein bisschen unprofessionell, wie auch immer … Es gibt aber nichts zu verheimlichen. Es war einfach die große Sorge da, dass das öffentliche Bewusstsein nicht adäquat ist und das ist ja auch legitim. Ich kannte den Herrn Bundeskanzler damals gar nicht persönlich, aber mein Eindruck war, dass er ein erstaunlich scharfes Bild über das Szenario hatte, auf das wir zusteuern. Nicht nur aufgrund dessen, was österreichische Experten gesagt haben, sondern weil er sich auch mit internationalen Staatschefs, meines Wissens dem israelischen und dem südkoreanischen Staatschef, ausgetauscht hat. Und das war letztlich spielentscheidend, dass die Bevölkerung ihre Einstellung geändert hat.
Aber „Angst“ steht im Protokoll.
Es gab so viele Sitzungen und Protokolle, das wurde ja nie formal bestätigt oder abgenommen. Wichtig ist die Stimmung und das war eine Stimmung begründeter Sorge, keine Stimmung von Panik oder Angst.
In einem Expertenpapier, auf dem auch Ihr Name steht, war von 100.000 Toten die Rede. Das war doch maßlos übertrieben …
Ich habe bereits mehrfach klargestellt, dass ich nicht Mitautor dieser Simulationsskizze eines Mathematiker-Teams bin und ihr auch nie zugestimmt habe. Es gab unmittelbar vor einer Sitzung kurzen telefonischen Kontakt mit einem der Autoren auf Vermittlung von Rektor Rengl, vor allem zur Frage von Masken. Tatsache ist: Wir wussten nicht, in welcher Dimension diese Krankheit ausbrechen würde. Da gab es verschiedenste Experten, den Professor Popper, den Professor Thurner, den Professor Mauser, den Professor Schachermayer. Mindestens vier Mathematiker-Gruppen haben Modelle erstellt. Damals entstand der Reproduktionsfaktor als Paramenter, er ist auch in anderen Ländern eine wichtige Größe. Abgesehen von den einzelnen Modellierungen waren sich alle Experten einig, dass die Belastung für das Gesundheitssystem zu groß wäre, wenn wir nicht entsprechende Maßnahmen setzen würden. Die waren damals aber bis zum 14. April ohnehin schon vereinbart.
Haben sich die Experten geirrt?
Es war eines von vielen Modellen, das mit gewissen Grundannahmen operierte, die damals schon überholt waren oder nur als Tischvorlage gedacht. Es war auch ein Anstoß, der in Österreich die Reproduktionszahl R0 in die Diskussion gebracht hat.
Aber es ist jenes Papier, das zur Angstdiskussion geführt hat. Der Public-Health-Experte Martin Sprenger schreibt: „Rückblickend war diese Eskalation der Angst nicht faktenbasiert, vollkommen unnötig und hat vielen vermeidbaren gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schaden verursacht.“ Was sagen Sie dazu?
Das Wort „faktenbasiert“ kommt ja immer wieder vor. Tatsache ist, dass wir bei Corona wenige Fakten im Sinne von „Evidenz“ haben. Was es gab, sind mathematische Modelle, die im Wesentlichen alle in dieselbe Richtung gezeigt haben, egal, von welcher Institution sie gekommen sind. Deshalb sehe ich es eher als Kommunikationsthema. Ob es überzogen war, dass der Herr Bundeskanzler ein Modell von mehreren verwendet hat in seiner Argumentation, und zwar gerade diese Simulation, diese Manöver-Kritik kann man jedenfalls machen. Welchen Schaden diese Argumentation angerichtet haben sollte, erschließt sich mir allerdings nicht. Ich bin kein Wirtschaftsexperte. Faktisch ist nichts passiert, weil der Lockdown immer bis 14. April vorgesehen war, der wurde weder verkürzt noch verlängert. Insgesamt war der österreichische Weg ein Richtiger. Dass die Kommunikation nicht in jeder Sekunde perfekt und angemessen war, liegt in der Natur der Sache. Es war eine Ausnahmesituation.
Sebastian Kurz hat noch etwas gesagt: Bald wird jeder jemanden kennen, der an Corona gestorben ist. War das auch übertrieben?
Ich kann mich noch gut erinnern, dass der Herr Bundeskanzler erzählt hat, dass er in Wien unterwegs war und in einem Park hat er gesehen, dass die Maßnahmen noch nicht richtig angekommen sind, dieser großen Sorge hat er mit drastischen Worten Ausdruck verliehen. Er ging von einem Worst-Case-Szenario aus. Aber dazu hat man nicht den österreichischen Bundeskanzler gebraucht, man musste nur den Fernseher aufdrehen, um zu schauen, was in Norditalien, im Elsass, in Spanien, in New York, in London, in Paris passiert. Wir sind jetzt in der zweiten Phase. Wenn man momentan durch Wien geht, hat man das Gefühl, dass eine große Erleichterung da ist, alle atmen auf und hoffen, dass es vorbei ist. Aber niemand hat eine Kristallkugel und kann sagen, ob es wirklich vorbei ist.
Würden Sie sagen, dass wir schon über den Berg sind?
Es ist jetzt ganz entscheidend, wie sich die Bevölkerung verhält. Ich habe mich gestern erst mit ein paar Experten ausgetauscht. Das allerwahrscheinlichste Szenario ist, dass es noch immer ein sehr großes Potenzial Infektionen und damit auch schweren Erkrankungsfällen gibt. Das heißt, die Krankheit ist nicht aus der Welt und wir haben bekanntlich keine Therapie, sodass nach wie vor allergrößte Vorsicht angebracht ist.
Wir haben bei 8,86 Millionen Einwohnern gerade einmal 1400 Erkrankte und 11.000 Infizierte. Verstehen Sie, dass da das Verständnis fehlt, dass alles so schlimm sein soll?
Natürlich verstehe ich es. Trotzdem ist es aber eben noch nicht vorbei. Wir stehen nach wie vor am Anfang der Pandemie. Weil die Maßnahmen so gut funktioniert haben, hat man das Gefühl, es ist eh nicht viel passiert. Tatsache ist, dass die Lockerungen erst möglich waren dank der Mithilfe der Bevölkerung. Wir haben am Anfang Zeit gekauft und hatten deshalb kein Problem in den Intensivstationen. Dieses Szenario, das damals im Februar gedroht hat, kann ich mir heute für Österreich nicht mehr vorstellen. Einfach weil wir die erste Welle gut überstanden haben. Trotzdem kann es natürlich wieder zu einem exponentiellen Wachstum kommen.
Wird eine zweite Welle kommen?
Bestimmt, die Frage ist nur, wie groß sie sein wird. Je aufmerksamer die Bevölkerung agiert, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir mit dieser Erkrankung sehr gut umgehen werden, auch mit unseren Kapazitäten, bis es eine Therapie oder Impfung gibt. Deshalb: Weiterhin Abstand halten, Masken tragen, Hände desinfizieren.
Frage an Sie als klinischen Pharmakologen: Wann wird es ein Medikament geben?
Das weiß Ihr Bruder wahrscheinlich besser als ich (lacht). Es gibt ja eine ganze Palette, das berühmte Remdesivir, aber auch ein paar andere interessante Kandidaten. Aber es ist zum derzeitigen Zeitpunkt eben nicht absehbar, was wirksam sein wird. Leider.
Es ist jetzt sehr viel die Rede über das Retten von Menschenleben. Ist das nicht ein scheinheiliger Diskurs, denn vor Corona haben wir ja auch nicht sehr viele Menschenleben gerettet …
Ja, es ist eine sehr schwierige Debatte. Wenn Sie sich anschauen, wie viele Personen an anderen Infektionskrankheiten auf der Welt sterben, dann sind diese Zahlen auch schwindelerregend. Die Frage wird auch sein, wie Covid-19 in nicht so gut entwickelten Ländern abläuft, da kommt es teilweise schon zu dramatischen Zuständen. Es ist eine alte Diskussion, die durch Corona wieder befeuert wird. Es gibt einen dramatischen Unterschied, was den medizinischen Standard betrifft, und dieser Unterschied ist letztlich nur eine Erinnerung daran, dass ein Menschenleben immer gleich viel wert ist, egal, wo auf der Welt.
In welcher Weise werden wir 2025 auf diesen Frühling zurückblicken?
Ich kann dazu nur eine laienhafte Skizze entwerfen. Corona wird ein Gamechanger auf vielen Ebenen gewesen sein: Etwa bei der Digitalisierung oder im Tourismus und Flugverkehr. Viele Herausforderungen in der Vergangenheit, etwa Fukushima, waren lokale Katastrophen. Corona ist eine globale Herausforderung. Rückblickend werden wir sicher sagen: Es war eine dramatische Zeit, die den Fortgang der Welt verändert und Prozesse angestoßen hat. Letztlich sollte die Krise eine Chance sein. Auch für Österreich. Wir werden uns die Frage stellen müssen, ob dieser Expertenstab ein ideales Instrument war oder ob es nicht doch besser wäre, ein Äquivalent zu einem Robert- Koch-Institut in Österreich zu haben.
Werden wir uns in fünf Jahren wieder umarmen?
Ganz bestimmt. Wir werden uns wieder umarmen und auch abbusseln. Das ist ja das Erschreckende an diesem Virus, dass es genau jenen Bereich trifft, der uns als soziale Wesen ausmacht. Eine Naturkatastrophe ist auch schrecklich, aber Corona verhindert ein Urbedürfnis. Wir sehen das insbesondere in der Medizin. Wir wollen ja unseren Patienten nicht verkleidet gegenübertreten, wie man das aus Filmen über Ebola kennt. Wir Menschen brauchen ganz dringend den persönlichen Kontakt. Das Virus beschädigt somit einen Teil des Menschseins, den wir uns wieder zurückerobern müssen.
Rektor und im Corona-Beirat
Geboren am 23. August 1967 in Klagenfurt. 1993 promovierte er sub auspiciis an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Ausbildungen zum Facharzt für Innere Medizin und klinische Pharmakologie in Österreich, Schweden und den USA. Müller war maßgeblich an der klinischen Entwicklung von Arzneimitteln und Impfstoffen beteiligt, unter anderem gegen Influenza, Borreliose, Ebola und Alzheimer. Seit 2015 leitet er die MedUni Wien als Rektor, in dieser Funktion bereitete er die Medizinische Universität, zu der auch das AKH gehört, auf die Corona-Pandemie vor. Bis 31. Dezember 2019 war er Präsident des Obersten Sanitätsrates und ist Beirat in der Corona-Taskforce der Bundesregierung. Verheiratet mit der Ärztin Dr. Ulrike Müller Zellenberg, zwei Söhne (Michael ist 16, Max 20).
Conny Bischofberg, Kronen Zeitung
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