„MTV Unplugged“-Album

Liam Gallagher: Die Gabel in der Suppenschüssel

Musik
12.06.2020 06:00

23 Jahre nachdem Liam Gallagher erkrankt seinen MTV-Unplugged-Auftritt mit Oasis absagen musste, erfüllt er sich den Traum verspätet solo. Das Ergebnis kann sich sehen und hören lassen und zeigt, dass sich der 47-Jährige am Gipfel seiner beeindruckenden Karriere befindet.

(Bild: kmm)

„In einer Welt voller Suppen ist er eine Gabel“, sagte Noel Gallagher wohl mehr verächtlich als humorig über seinen kleinen Bruder Liam, mit dem ihm seit mittlerweile knapp drei Dekaden eine medial und global ausgeschlachtete Hassliebe verbindet. Liam Gallagher ist ruppig, unangepasst und gemeinhin das, was man einen Proleten nennt. Liam Gallagher ist möglicherweise aber auch der letzte Rockstar, den es da draußen gibt. Andere Anwärter sind entweder auf politischen Irrwegen (Morrissey), viel zu oft viel zu gut drauf (Dave Grohl) oder schlichtweg altersmilde (Iggy Pop) geworden. Der 47-jährige Mancunian kann aber immer noch gewaltig austeilen. Auch wenn er das Kokain gegen Joggingrunden eingetauscht und seine nächtlichen Pub-/Pintrunden erheblich minimiert hat - wenn Liam was zu sagen hat, dann strömt das ungefiltert aus ihm raus. Egal, ob in den immer seltener werdenden Interviews oder auf seiner Lieblingsplattform Twitter. Derb, hantig und manchmal bewusst politisch unkorrekt.

Legitime Performance
Dass der Rüpel selbst im sanften Segment nicht zärtlich ist, versteht sich dabei fast von selbst. Nachdem er die Oasis-Unplugged-Show 1996 in letzter Minute krankheitsbedingt absagen musste, hat sich Liam letztes Jahr einen großen Lebenstraum erfüllt und sein persönliches „MTV Unplugged“ solo nachgeholt. Das ist insofern legitim, als er nach einigen wankenden Jahren und eher mediokren Ergüssen mit seiner Band Beady Eye längst wieder in die Erfolgsspur gefunden hat. Als Solokünstler hat er mittlerweile zwei britische Nummer-eins-Alben zu Buche stehen, die Hallen in Europa füllt er längst wieder mühelos und mit seinem letztjährigen Studioalbum „Why Me? Why Not.“ hat er auch einen Großteil der Kritiker überzeugt. Songs wie „One Of Us“ oder „Once“ sind nicht nur im akustischen Gewand mitunter die Besten seit den Oasis-Glanztagen, die rund ums Millennium endeten. Ein so begnadeter Songwriter wie sein verhasster Bruder wird Liam in diesem Leben nicht mehr, mit den richtigen Partnern hat er aber längst bewiesen, dass er sich nicht verstecken muss.

In der „Hull City Hall“ hat sich Liam für die MTV-Auszeichnung nicht nur das 24-köpfige Urban Soul Orchestra gesichert, sondern für einige Songs auch seinen alten Oasis-Weggefährten und Freund Paul „Bonehead“ Arthurs, der unter anderem letzten Februar im Wiener Gasometer mit ihm auf der Bühne stand. Die zehn Songs mit einer knappen Stunde Spielzeit sind gleichmäßig aufgeteilt in Oasis- und Solonummern. Neben legendären Klassikern wie dem abschließenden „Champagne Supernova“ oder der Mitsing-Hymne „Stand By Me“ überzeugt Liam aber vor allem im „Sad Song“, dem kultigen „Definitely Maybe“-Vinyl-Outtake, in dem er stimmlich fast wieder an seine Glanzzeit heranreicht. Überhaupt die Stimme - wie sehr wurde er dafür in den letzten Jahren gescholten, oft auch zurecht. Doch an diesem Abend, dessen Bedeutung sich Liam mit Sicherheit bewusst war, holte das Raubein wirklich alles aus sich heraus und krönte sich in dieser Nummer einmal mehr zum wichtigsten Timbre im Rock’n’Roll-Kosmos.

Raum für Urrebellisches
Die Backgroundgesangs-Parts werden an Stelle von Noel von drei talentierten Sängerinnen übernommen, was trotz aller Bemühungen einen leicht schalen Beigeschmack hinterlässt, sind die Oasis-Hits in den Köpfen der Fans doch sehr wuchtig eingespeichert. Auf Langstrecke ist es trotzdem beeindruckend zu sehen, wie der Rock’n’Roll-Elefant versucht, den Porzellanrahmen des sanften Stelldicheins nicht mit seiner überbordenden Präsenz zu sprengen. Das gelingt nicht immer souverän, macht aber nichts. Wenn er sich gen Ende bei „Gone“ nicht mehr halten kann und die sanften Streicher übertönt, hat das etwas Urrebellisches an sich. Leichte stimmliche Ausritte sind in der Videoversion auch bei den Fans zu sehen, die sich ihren Rock’n’Roll nicht von dem gemütlichen Setting nehmen lassen.

Gerade die Mischung aus Glanzleistungen der Oasis-Zeit, selten gespielten Songs und dem famosen Material seiner jüngeren Solokarriere machen den Reiz dieses Tondokuments aus. „Now That I’ve Found You“, seiner Tochter Molly gewidmet funktioniert im entschlackten Rahmen genauso gut wie die Noel-Spitze „One Of Us“. Aber auch wenn Liams MTV-Unplugged-Auftritt ein fälliger und auch mehr als würdiger ist - die fast schon schmerzende Verletzlichkeit von Nirvana oder Eric Clapton bzw. die beeindruckende Intensität einer Alicia Keys erreicht Gallagher nicht. Am besten funktioniert er trotz der vielen sanften Songs in seinem Oeuvre immer noch dann, wenn er einfach mal die Sau rauslassen kann. Die Rockwelt braucht aber ohnehin mehr Gabeln in einer Welt voller Suppe. Solange da nichts geschieht, muss es eben Liam richten.

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