Blick nach Israel
Haben Sie die Kontrolle über Corona verloren?
Die viel gefürchtete zweite Welle, in Israel ist sie angekommen. Der Berater der israelischen Regierung, Professor Eli Waxman, spricht mit Conny Bischofberger über den Albtraum Corona, Fehler der Politik, und was er Österreich rät.
Israel gilt als Pionier bei der Eindämmung der Corona-Pandemie: Als in Ischgl noch gefeiert wurde, schloss das Land seine Grenzen und reduzierte das öffentliche Leben auf ein Minimum. Infektionen und Todesfälle konnten in engen Grenzen gehalten werden. Ein Telefonat mit Israels Premier Benjamin Netanyahu habe ihn wachgerüttelt, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz, und folgte beim ersten Shutdown der israelischen Strategie mit raschen und strengen Einschränkungen.
Professor Eli Waxman (55) ist der Berater der israelischen Regierung. Als ich ihn am Handy erreiche, sitzt er gerade in seinem Home-Office im heiß-feuchten Tel Aviv. „Der ganze Papierstoß auf meinem Schreibtisch - Unterlagen, Notizen, Zeitungsartikel - hat mit Corona zu tun.“ Im „Krone“-Interview erklärt er, wie schwer sein Land (ca. 8,9 Millionen Einwohner) gerade von der zweiten Welle getroffen wird und was das für Österreich bedeutet.
„Krone“: Herr Professor, Israel hat Bars und Fitnessstudios geschlossen und Versammlungen beschränkt. Am Montag folgen weitere Einschränkungen. Was ist da passiert?
Eli Waxman: Die Zahl der Neuinfektionen hat sich über etwa eine Woche verdoppelt, wir liegen jetzt schon bei 1500 pro Tag. Und zwar über das ganze Land verteilt, nicht regional beschränkt. Und wir haben nur zehn Prozent der Infektionsquellen identifiziert. All das deutet darauf hin, dass wir nicht in der Lage sein werden, die Ausbreitung des Virus ohne neuerliche Social-Distancing-Maßnahmen zu verhindern.
Haben Sie die Kontrolle über Corona verloren?
Ja, das muss man leider so sagen. Im Moment steigen die Zahlen um ungefähr sechs bis neun Prozent pro Tag, im März waren es 30 Prozent. Wir haben deshalb der Regierung empfohlen, Versammlungen von mehr als 20 Personen einzuschränken. Das zielt vor allem auf Freizeitaktivitäten ab, die ein hohes Infektionsrisiko beinhalten, aber der Wirtschaft wenig schaden. Restaurants werden zwar nicht geschlossen, aber es dürfen nicht mehr als 20 Personen anwesend sein. Das gilt auch für Kinos und beispielsweise Busse. Die Regierung hat am Montag begonnen, Schritte in diese Richtung einzuleiten, leider nicht in dem Umfang, den wir erhofft hatten. Wir hoffen, dass wir in den kommenden Tagen einen Rückgang sehen werden, wenn nicht, werden wir härtere Maßnahmen ergreifen müssen.
Droht ein zweiter Lockdown?
Nein, das ist weit von einem Lockdown entfernt und es beeinträchtigt die Wirtschaft nicht allzu sehr. Es geht hier um einen Bereich, der nur einen kleinen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt leistet. Industrie, Handel und Hi-Tech arbeiten in vollem Umfang weiter.
Als die Pandemie ausgebrochen ist, galt Israel als Vorbild, viele Länder haben sich an Ihrem Modell orientiert. Wann ist Israel falsch abgebogen?
Der frühe Lockdown hat das Ausbreitungstempo sehr schnell eingedämmt und uns in die Lage versetzt, rasch wieder zur Normalität zurückzukehren. Dabei sind zwei große Fehler passiert. Wir haben empfohlen, die Einschränkungen in Zwei-Wochen-Intervallen schrittweise zu lockern, sodass der Effekt jeder Lockerung genau gemessen werden kann und gegebenenfalls früh korrigierende Maßnahmen ergriffen werden können. Wir haben außerdem empfohlen, dass jene Aktivitäten, die mit einem höheren Risiko einhergehen wie zum Beispiel die Öffnung der Schulen, als letztes wieder aufgenommen werden sollten. Die Regierung hat unsere Empfehlungen zwar übernommen, aber in der Praxis wurden sie nicht umgesetzt.
Mit welchen Konsequenzen?
Bei einer Population von ca. 8,9 Millionen muss man die Neuinfektionen auf ein paar Dutzend pro Tag beschränken, das schafft ein sicheres Umfeld für alle und ermöglicht uns, neue Ausbrüche sehr schnell zu unterdrücken. Im Mai hatten wir bereits zehn Neuinfektionen pro Tag, aber die Regierung hat es verabsäumt, eine Behörde zu schaffen, die schnell lokale Ausbrüche eindämmen kann: durch Tests, Kontaktverfolgung und Isolation. Deshalb war Israel nicht in der Lage, diese Ausbrüche zu kontrollieren, die Zahlen sind angestiegen auf den Wert, den wir heute haben und mit dem wir kaum noch fertigwerden.
Wo sehen Sie die Gründe für die abweichende Haltung der Regierung?
Sie sind komplex. Ich glaube, der politische Druck, verschiedene Bereiche der Wirtschaft schnell wieder zu öffnen, war sehr groß. Und um die Infektionsketten zu durchtrennen, wären signifikante Umstrukturierungen im Gesundheitsministerium notwendig gewesen. Die vorhandene Struktur war komplett ungeeignet, viel zu behäbig, um eine derart große Krise zu bewältigen. Es war einfach zu schwierig, das organisatorisch und managementtechnisch umzusetzen.
War die Bevölkerung letztlich zu wenig diszipliniert?
Ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit eine Schuld trifft. Das ist ein Versagen der Regierung. Es ist ihre Aufgabe, diese Bedingungen zu schaffen. Auch das Zurücknehmen der Einschränkungen war ja keine Entscheidung der Bevölkerung. Die Menschen haben sich an die Vorgaben gehalten. Als die Regierung alles gelockert hat, haben sie gedacht: Jetzt ist es eh vorbei. Aber das ist ein großer Trugschluss.
Ist es frustrierend, dass Ihren Empfehlungen nicht gefolgt wurde?
Ja, das ist es. Denn es war klar, was passieren wird. Natürlich ist es frustrierend, mit anzusehen, dass unausweichlich das eintritt, was wir vorausgesagt haben.
Wie werden Sie die zweite Welle überstehen?
Ich nenne es nicht „Welle“, denn eine Welle trifft uns unvorbereitet. Tatsächlich ist es aber unser Verhalten, das den Fortlauf der Pandemie bestimmt. Und ja, dieses Verhalten hat zu einem Kontrollverlust geführt. Deshalb begrüße ich es, dass die Regierung am vergangenen Montag angekündigt hat, einen „Special Manager“ zu nominieren, der die Schnelltest-, Verfolgungs- und Isolationsmöglichkeiten umsetzen wird. Aber ich bin besorgt, weil es diesen Manager bis jetzt noch nicht gibt, und hoffe, dass das Ganze nicht wieder um mehrere Tage verschoben wird.
Wird das Gesundheitssystem dem großen Anstieg der Neuinfektionen standhalten können?
Am vergangenen Sonntag waren wir in einer Situation, in der wir nicht mehr in der Lage gewesen wären, eine große Anzahl an Schwerkranken entsprechend zu behandeln, wenn wir keine Schritte unternommen hätten. Das war eine gefährliche Situation und an dem Punkt haben wir deswegen der Regierung empfohlen, sofort Maßnahmen zu ergreifen, und das haben sie am Montag auch getan. Wir werden in den kommenden paar Tagen sehen, ob die Maßnahmen, die ergriffen wurden, auch ausreichend waren und ob die Neuinfektionen dadurch reduziert werden. Falls dem nicht so ist, müssen wir härtere Maßnahmen ergreifen.
Österreich hat sich während der Pandemie von Anfang an mit Ihrer Regierung abgestimmt … Wie gut ist das Krisenmanagement in Ihren Augen?
Ja, wir waren mit Bernhard Bonelli vom Bundeskanzleramt in engem Kontakt und haben mehrfach besprochen, wie wichtig eine effektive Stelle ist, die eine Infektionskette innerhalb von 48 Stunden unterbinden kann. Es scheint so, als wäre in Österreich dieser Prozess - auch mit der Ampel - vorangeschritten, deshalb bin ich in Bezug auf Ihr Land optimistisch, mache mir aber ein bisschen Sorgen um Israel. Unser Gesundheitsminister hat zwar seinen Willen bekundet, aber messen kann man ihn nur an den Taten.
Werden auch in Österreich aufgrund steigender Zahlen weitere Verschärfungen notwendig sein?
Wenn zwei Dinge zutreffen, dann wird man mit dem Virus weiterhin ohne zusätzliche Beschränkungen leben können: Erstens darf es nicht mehr als ein paar Dutzend Neuinfektionen pro Tag geben und zweitens muss die Handlungsfähigkeit gegeben sein, bei lokalen Ausbrüchen schnell zu agieren. Ist das nicht der Fall, muss sofort nachgeschärft werden.
Wir hatten eine Demonstration mit 50.000 Teilnehmern. Müsste man eine solche Veranstaltung verbieten?
Das Demonstrationsrecht ist etwas sehr Wesentliches in einer Demokratie. Die teilnehmenden Personen müssen sich aber hundertprozentig an die Regeln halten.
Haben Sie persönlich Angst vor dem Virus?
Ich möchte mich definitiv nicht damit anstecken, weil ich die Folgen nicht erleben möchte. Es stimmt zwar, dass die Anzahl an Personen, deren Erkrankung einen schweren Verlauf nimmt, nicht hoch ist. Aber in meinem Alter beträgt die Chance eines schweren Verlaufs bereits fünf Prozent oder ein bisschen mehr. Eine Fünf-Prozent-Chance auf schwere Gesundheitsschäden ist ziemlich signifikant. Ich möchte nicht, dass mir das passiert.
Wie schützen Sie sich?
Ich mache das, was jeder tun sollte, ich trage eine Maske, ich verwende regelmäßig Alcogel-Desinfektionsmittel. Jetzt, wo wir wieder eine höhere Verbreitung haben, meide ich es, Orte aufzusuchen, wo größere Menschenmengen versammelt sind - Restaurants oder Einkaufszentren, Hochzeiten, solche Dinge.
Haben Sie eine Tracking-App?
Ja. In Israel ist sie nicht verpflichtend, aber ich finde, es sollte noch viel stärker kommuniziert werden, wie wichtig das ist und wie wenig mit den Daten passieren kann.
Würden Sie derzeit in ein Flugzeug steigen oder ist das in Ihren Augen zu gefährlich?
So wie die Zahlen derzeit in Israel sind, wäre die Chance, dass es in einem Flugzeug einen Überträger gibt, nicht klein, deswegen fliege ich im Moment nicht. Sobald wir wieder nur ein paar Dutzend Fälle täglich haben, werde ich es aber wieder tun.
Kennen Sie jemanden, der an Covid-19 gestorben ist?
Nein, nicht persönlich.
Was werden wir in 20 Jahren unseren Enkelkindern über diese seltsame Zeit erzählen?
Was wir definitiv sagen werden können, ist, dass wir eine sehr, sehr ungewöhnliche Zeit erlebt haben. Aber diese Zeit ist noch lange nicht vorbei! Was wir also unseren Enkeln in 20 Jahren erzählen würden, hängt sehr stark davon ab, was wir heute machen. Es kann besser ausgehen oder schlechter. Ich hoffe, wir können ihnen sagen, dass wir verantwortungsvoll mit uns und unseren Mitmenschen umgegangen sind.
Werden wir uns je wieder umarmen und küssen?
Aber sicher! In ein oder zwei Jahren wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Impfstoff da sein. Das sagen alle Experten. Und zwei Jahre lang ist es möglich, mit dem Virus zu leben, wenn wir uns an die Regeln halten. Dann können wir zu unserem normalen Leben zurückkehren. Aber während dieser zwei Jahre müssen wir sehr, sehr vorsichtig sein.
Zwei Jahre sind eigentlich nicht viel in einem ganzen Leben …
Das ist zwar richtig, aber für die meisten Menschen sind zwei Jahre doch eine sehr lange Zeit. Aber ich bin optimistisch. Danke für dieses Gespräch, und stay safe!
TOP-FORSCHER AM WEIZMANN-INSTITUT
Geboren am 17.6.1965 in Petach Tikva (Israel). Studium der Mathematik und Physik an der Hebrew University of Jerusalem. Seit 1998 Top-Forscher beim renommierten Weizmann-Institut in Tel Aviv, dort leitet er das Department für Physik und Astrophysik. Er ist auch Direktor des Benoziyo Center for Astrophysics. Waxman ist Berater der israelischen Regierung. Verheiratet mit der Psychotherapeutin Vered, das Paar hat zwei Kinder. Chen ist 30, Iddo 29 Jahre alt.
Conny Bischofberger, Kronen Zeitung
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