8,9 Millionen virtuelle Österreicher gehen in einem Computerprogramm arbeiten, in die Schule oder bleiben zu Hause - und bilden eine Orientierung für die Covid-19-Maßnahmen der Wirklichkeit. Niki Popper ist der Mann hinter den Modellen, er berechnet die Verbreitung des Virus - schaut aber in keine Glaskugel.
Eine grüne Tür, ein Mann, der geduldig erklärt, und zwei unscheinbare Räume, in denen Wissenschaftler virtuelle Österreicher ihr Leben leben lassen. Die „Drahtwarenhandlung“ in Wien ist das Tor zur „Welt der Zahlenmenschen“, wie Mathematiker Niki Popper es nennt. Hier wird berechnet, was passiert, wenn Quarantäne verhängt wird, wie sich Lockerungen auswirken oder warum Superspreader eigentlich praktisch sind - aber dazu später mehr.
Die Modelle werden, wie berichtet, der Regierung zur Verfügung gestellt, die sie als Orientierung für die Wirklichkeit heranziehen kann. „Wir liefern aber keine absoluten Zahlen oder sagen die Zukunft voraus“, betont Popper, „sondern entwerfen lediglich Szenarien.“
Bevölkerungsmodell wird seit Jahren gefüttert
Aus den Kaffeetassen in der „Drahtwarenhandlung“, einem „Spin-off“ der TU Wien, wird also nur getrunken - nicht gelesen. So weit, so gut. Doch wie erschafft man 8,9 Millionen Computer-Österreicher? „Wir füttern ein Bevölkerungsmodell seit Jahren mit Daten der Statistik Austria“, erklärt Popper. Damit kann allerhand berechnet werden, etwa wie Städte der Zukunft aussehen könnten - oder wie sich ein Virus verbreiten kann. Man kann sich das so vorstellen: Erwachsene Menschen spielen „Sims“ - und schauen, was passiert, wenn ihre Charaktere in die Schule gehen oder zu Hause bleiben, im Büro oder Home-Office arbeiten, im In- oder Ausland Urlaub machen.
Das klingt einfach - in Wahrheit stecken aber komplizierte Berechnungen dahinter, „zu 80 Prozent besteht unsere Arbeit in der Überprüfung von Daten“, sagt Popper, denn: „In einer komplizierten Welt können die Methoden nicht unkompliziert sein.“ Am Ende kommen dann die berühmten Kurven heraus, die Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) gerne in die Kameras hält.
Doch wie nahe kommen sie damit an die Realität? „Sehr“, sagt Popper und erklärt: „Wir haben berechnet, dass es nach den Lockerungen zu Clustern kommen wird - nach sechs bis neun Wochen.“ Also im Juli. Aber warum nach mehr als zwei Monaten? Man stelle sich die virtuellen Bürger vor, erklärt Popper, da stecken sich immer wieder welche an. Aber die, die sich anstecken, geben das Virus nicht gleichmäßig weiter, sondern viele stecken niemanden an - und einer viele: der Superspreader.
Superspreader können durchaus praktisch sein
„Es kommt aber zu Fehlzündungen. Denn wenn jemand Superspreader, aber Eremit ist, steckt er niemanden an. Die Nicht-Superspreader sind quasi egal, weil sie sowieso niemanden anstecken“, so Popper. Das sei praktisch, denn: Die Infektionsketten könne man durch Früherkennung von infizierten Personen relativ rasch eindämmen. Die Modelle berechneten, dass die Ausbreitung in fast 90 Prozent der Simulationen gestoppt werden könne.
Ob sich das bewahrheitet, komme nun darauf an, wie gut das Containment, also das Erkennen und Isolieren von Infizierten, funktioniert. Die Wissenschaftler lassen die virtuelle Bevölkerung indes den Herbst erleben, denn der könnte ja, wie man weiß, spannend werden.
Anna Haselwanter, Kronen Zeitung
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